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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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schickte der Sergeant nach Hause – der war ein verheirateter Mann. Im Revier war es still und friedlich. Die Arrestzelle stand leer – keine randalierenden Matrosen, keine betrunkenen Kunden aus »Zimmer neun«. Herrlich!
    Ein Lied über das ruhmreiche Jahr fünfundsechzig vor sich hin summend, wusch Lockstone sein Hemd. Er roch an seinen Socken und zog sie wieder an – einen Tag konnte er sie noch tragen. Er kochte sich einen starken Kaffee, rauchte eine Zigarre, und dann war es auch schon Zeit, das Nachtlager zu bereiten.
    Er legte sich in den Sessel, die Beine auf einen Stuhl, und zog die Stiefel aus. Sogar eine Decke gab es im Büro, sie war zwar stellenweise schon recht abgewetzt, aber es war seine Lieblingsdecke; darunter hatte er immer die schönsten Träume.
    Der Sergeant gähnte und ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen – es war alles in Ordnung. Es war natürlich kaum vorstellbar, daß englische Spione oder irgendwelche Japse versuchen würden, ins Polizeirevier einzudringen, aber ein bißchen Vorsicht konnte nicht schaden.
    Die Bürotür war abgeschlossen. Fensterrahmen und -gitter ebenfalls, nur das obere Lüftungsfenster stand offen, sonst erstickte man. Doch die Abstände zwischen den Gitterstäben waren sehr eng – da kam höchstens eine Katze durch.
    Der Regen, der seit dem Mittag gefallen war, hatte aufgehört, am Himmel leuchtete der Mond, so hell, daß Lockstone sich den Mützenschirm über die Augen zog.
    Auf der Suche nach einer bequemen Stellung drehte er sich hin und her. Unter seinem Hemd knisterten die blutbeschriebenen Papiere. Komische Bastarde gibt es auf der Welt, dachte er kopfschüttelnd.
    Lockstone schlief immer rasch ein, doch zuvor (und das liebte er am meisten) huschten ihm bunte Bilder durch den Kopf, aus der Vergangenheit oder von Dingen, die nie stattgefunden hatten. Sie drehten sich, wechselten einander ab, vertrieben einander und gingen allmählich in den ersten Traum über, der stets am süßesten war.
    So auch diesmal. Er sah einen Pferdekopf mit spitzen, gleichmäßig zuckenden Ohren, dicht mit braunem Gras bewachsene Erde, die auf ihn zuraste; dann einen sehr hohen Himmel mit weißen Wolken, wie sie nur über endlosen freien Räumen vorkommen; dann eine Frau, die ihn neunundsechzig in Louisville geliebt (vielleicht aber auch nur so getan) hatte; dann merkwürdigerweise einen Zwerg in einem mehrfarbigen Trikot – er drehte sich im Kreis und sprang durch ein Rad. Das letzte Bild, aufgetaucht aus längst vergessener Vergangenheit, vielleicht aus der Kindheit, ging allmählich in den Traum über.
    Der Sergeant grunzte vor Begeisterung über den kleinen Artisten, der auch fliegen und Feuer spucken konnte.
    Dann begann ein weniger angenehmer Traum, von Feuer – dem Schlafenden wurde heiß unter seiner Decke. Er wälzte sich herum, die Decke glitt zu Boden, und im Reich der Träume war wieder alles gut.
    Weit nach Mitternacht erwachte Lockstone. Nicht von selbst, sondern von einem aus der Ferne zu ihm dringenden Geräusch. Im Halbschlaf erkannte er es nicht gleich: die Türglocke.
    Sie hing eigens für dringende nächtliche Notfälle vorm Eingang.
    Lockstones Abmachung mit Asagawa und dem russischen Vizekonsul war eindeutig: Egal, was passierte, der Sergeant setzte keinenFuß aus dem Revier. Ob Prügelei, Messerstecherei oder Mord – egal. Das konnte bis zum Morgen warten.
    Darum drehte sich Lockstone auf die andere Seite und wollte weiterschlafen, doch das Gebimmel hörte nicht auf.
    Sollte er nachsehen? Natürlich ohne rauszugehen. Vielleicht war das ja eine Falle. Womöglich waren es gar die Halunken, wollten ihre Papiere holen.
    Er griff nach seinem Revolver und ging lautlos hinaus in den Flur.
    In der Eingangstür gab es ein raffiniertes kleines Fenster aus dunklem Glas. Von innen konnte man hindurchsehen, von außen nicht.
    Lockstone schaute hinaus. Auf der Treppe stand ein japanisches Mädchen in gestreiftem Kimono, wie ihn die Dienerinnen im Hotel »International« trugen.
    Sie streckte die Hand nach der Klingel aus und zog erneut mit aller Kraft daran. Aber nun rief sie dazu noch mit quäkender Stimme: »Polismen-san! Meine Kumiko, Hotel Intanasianalu! Unglück! Matlos totslagen! Ganz tot! Billiado! Stock slagen! Loch in Kopf!«
    Alles klar. Im Billardzimmer hatten sich Matrosen mit Queues geprügelt und jemandem den Schädel eingeschlagen. Nichts Besonderes.
    »Morgen früh!« rief Lockstone. »Sag deinem Herrn, ich schicke morgen früh einen

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