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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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ersetzt und das
    »ru« durch ein »nu«. Diese Zeichen kommen auch in anderen Kreisen vor, das erste dreimal, das zweite einmal.
    Weiter.
    Er nahm eine Lupe und betrachtete den Kreis gründlicher. Was waren das für kleine Striche über den drei Schlangen? Schmutz? Nein, sie waren mit Tusche gezeichnet. Sie sahen aus wie Nigori, das Zeichen für Stimmhaftigkeit, das die Silbe »ka« in »ga« verwandelt, »ta« in »da«, »sa« in »za«. Richtig: »bu« war stimmhaft, also eine Silbe mit Nigori.
    Twiggs zeichnete nachdenklich den Kreis mit den beiden Zeichen darin ab.

    Entschlüsselt hieße das »to« stimmhaft (also do) plus »nu« oder »n«.
    Moment, Moment …
    Der Doktor rieb sich aufgeregt die Glatze und erhob sich halb von seinem Stuhl. Aber in diesem entscheidenden Augenblick schnurrte leise die Nachtglocke überm Schreibtisch – seine eigene Erfindung: Von der Türklingel waren elektrische Drähte bis in sein Kabinett und sein Schlafzimmer gezogen, damit späte Patienten die Mädchen nicht aufweckten.
    Mißmutig ging er zur Tür, hielt aber im Flur inne. Nein! Mister Asagawa hatte ihn streng ermahnt: keine nächtlichen Besucher, niemandem die Tür öffnen.
    »Doktor? Sind Sie da?« rief jemand vor der Tür. »Doktor Twiggs? Ich habe das Schild an Ihrer Tür gesehen! Um Christi willen, helfen Sie mir!«
    Eine aufgeregte, fast weinende Männerstimme mit japanischem Akzent.
    »Ich bin Jonathan Yamada, Kommis der Firma ›Simon, Ewers & Company‹. Um unseres Herrn Jesu willen, machen Sie auf!«
    »Was ist denn passiert?« fragte Twiggs und dachte nicht daran, zu öffnen.
    »Bei meiner Frau haben die Wehen eingesetzt!«
    »Aber ich bin kein Geburtshelfer. Sie müssen zu Doktor Buckle, er wohnt …«
    »Ich weiß! Wir waren ja auf dem Weg zu ihm! Aber der Wagen ist umgestürzt! Hier um die Ecke! Doktor, ich flehe Sie an! Sie ist am Kopf verletzt und blutet! Sie wird sterben, Doktor!«
    Dumpfes, unterdrücktes Schluchzen.
    In keinem anderen Fall hätte Lancelot Twiggs aufgemacht, denn er war ein Mann des Wortes. Aber er mußte an die arme Jenny denken und an seine eigene Ohnmacht und ausweglose Verzweiflung.
    »Augenblick … Augenblick …«
    Er öffnete die Tür einen Spalt, mit vorgelegter Kette. Draußen stand ein molliger Japaner in Gehrock und Melone mit bebendem, tränenüberströmtem Gesicht. Er sank sofort auf die Knie und hob dem Doktor die Hände entgegen.
    »Ich flehe Sie an! Schnell!«
    Sonst war niemand auf der Straße.
    »Wissen Sie, ich bin krank«, murmelte Twiggs verlegen. »In der Hommura-dori-Straße wohnt Doktor Alberti, ein ausgezeichneter Chirurg. Das ist nur zehn Minuten von hier …«
    »Bis ich da bin, ist meine Frau verblutet! Retten Sie sie!«
    »Ach, was soll ich nur mit Ihnen machen …«
    Natürlich mußte man sein Wort halten, aber der ärztliche Eid …
    Seufzend löste er die Kette. Jonathan Yamada schluchzte: »Ich danke Ihnen, danke! Erlauben Sie, daß ich Ihre Hand küsse!«
    »Dummheiten! Kommen Sie rein, ich ziehe mir nur Schuhe an und hole meine Instrumente. Warten Sie in der Diele, es dauert nur einen Moment.«
    Der Doktor ging rasch in sein Kabinett, um seine Arztasche zu holen und das geheime Schema zu verstecken. Oder sollte er es lieber mitnehmen? Nein, das war wohl unnötig.
    Der Japaner hatte entweder nicht gehört, daß er in der Diele warten sollte, oder er war vor Aufregung begriffsstutzig – jedenfalls trottete er dem Doktor hinterher und stammelte dabei ununterbrochen etwas von »Hand küssen«.
    Auf der Schwelle zum Kabinett rief er: »Erlauben Sie mir wenigstens, Ihre edle Hand zu drücken!«
    »Meinetwegen.« Twiggs reichte ihm die Rechte, die Linke an der Tür. »Ich muß mich einen Moment zurückziehen …«
    Der gerührte Japaner preßte die Hand des Doktors mit aller Kraft.
    »Au!« rief Twiggs. »Das tut weh!«
    Er hob die Hand zu den Augen. Aus dem untersten Glied desMittelfingers kam ein Tropfen Blut. Der Kommis rief hektisch: »Verzeihen Sie, um Himmels willen! Ich trage einen Ring, ein altes Erbstück! Der dreht sich manchmal herum, er ist ein wenig zu groß. Habe ich Sie gekratzt? Ja? Ach, ach! Das ist unverzeihlich! Ich verbinde Sie, mit meinem Taschentuch, es ist ganz sauber!«
    »Nicht nötig, eine Bagatelle.« Twiggs verzog das Gesicht und leckte sich die Wunde. »Also, ich bin gleich wieder da. Warten Sie.«
    Er schloß die Tür hinter sich, ging zum Schreibtisch und wankte – ihm war plötzlich schwarz vor Augen. Er griff mit beiden

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