Diamantene Kutsche
des Mannes,
Der doch alles weiß.
Der Postbote
In der Nacht brachen sie auf nach Yokohama. Fandorin auf seinem Dreirad, Tamba zu Fuß. Der Radfahrer trat gleichmäßig und kräftig in die Pedale, doch der Ninja lief schneller. Zudem mußte er nicht immer wieder anhalten, um eine Kette nachzuziehen oder einen steinigen Abschnitt zu überwinden. Eigentlich hatten sie auch nicht verabredet, gemeinsam zu reisen, sondern nur ausgemacht, wo sie sich treffen wollten: Im Bluff, auf dem Hügel, von dem aus man Tsurumakis Haus sah.
Fandorin gab sich ganz dem Rhythmus des Radfahrens hin und dachte nur daran, richtig zu atmen. Damit stand es noch immer schlecht, ansonsten aber fühlte er sich weit besser als noch am Tag. Die Bewegung half ihm. Er war gleichsam kein Mensch mehr, sondern ein kettengetriebener Mechanismus mit Kugellagern. In seineSeele war zwar keine Ruhe eingezogen, aber eine gewisse rettende Leere, ohne Gedanken, ohne Gefühle. Am liebsten wäre er bis an sein Lebensende so durch das schlafende Tal gefahren, ohne jede Müdigkeit.
Er verspürte tatsächlich keine Müdigkeit. Vor ihrem Aufbruch hatte Tamba ihn genötigt, ein Kikatsu-maru zu schlucken, eine alte Ninjaspeise, die die Shinobi stets bei sich trugen, wenn sie eine lange Reise antraten. Das war eine kleine, fast geschmacklose Kugel aus einem Pulver aus geriebenen Möhren, Buchweizenmehl, Bataten und irgendwelchen Wurzeln. Diese Masse mußte drei Jahre lagern, bis sie keine Flüssigkeit mehr enthielt. Tamba erklärte, ein erwachsener Mann brauche nur zwei, drei solcher Kügelchen, um den ganzen Tag weder Hunger noch Erschöpfung zu verspüren. Anstelle einer Flasche mit Wasser gab er Fandorin einen Vorrat an Suikatsu-maru – drei winzige Röllchen aus Zucker, Malz und dem Fleisch marinierter Pflaumen.
Außerdem überreichte Tamba Fandorin ein weiteres Geschenk, das offenbar dessen Rachedurst anheizen sollte: Eine Photographie von Midori, vermutlich aus ihrer Zeit im Freudenhaus. Das unprofessionell kolorierte Porträt zeigte ein Porzellanpüppchen im Kimono mit hoher Frisur. Fandorin betrachtete das Bild lange, erkannte Midori aber nicht. Die Schönheit war verschwunden. Geistesabwesend überlegte er, daß sich wahre Schönheit vielleicht überhaupt nicht mit einem photographischen Objektiv festhalten ließ; sie war zu lebendig und unregelmäßig, zu wechselhaft. Womöglich lag es aber auch nur daran, daß man wahre Schönheit nicht mit den Augen wahrnahm, sondern mit anderen Sinnen.
Der Weg von Yokohama in die Berge hatte zwei Tage gedauert. Den Rückweg bewältigte Fandorin in fünf Stunden. Er machte keine einzige Rast, denn er fühlte sich nicht im geringsten erschöpft – bestimmt wegen der wundertätigen Maru.
Zum Bluff hätte er nun geradeaus fahren müssen, in RichtungHippodrom, doch statt dessen lenkte er sein Fahrrad nach links, wo sich hinter dem Fluß, eingehüllt in Morgennebel, dichtgedrängt die Dächer der Handelsviertel abzeichneten.
Er jagte über die Nishinobashi-Brücke, hinter der sich die schnurgeraden Straßen des Settlements erstreckten, und erreichte anstelle des Hügels, auf dem Tamba vermutlich bereits längst auf ihn wartete, das Haus mit der dreifarbigen russischen Fahne an der Uferstraße.
Daß Fandorin seine Route geändert hatte, lag nicht an einer der Erschütterung geschuldeten Zerstreutheit. Er war keineswegs zerstreut. Im Gegenteil, infolge der eingefrorenen Gefühle und der vielstündigen mechanischen Bewegung arbeitete sein Gehirn nun gleichmäßig und präzise wie eine Rechenmaschine. Räder drehten sich, Hebel rasteten ein, und die Lösung kam herausgesprungen. In normaler Verfassung hätte Fandorin vermutlich noch dreimal hin und her überlegt, das Für und Wider erwogen, nun aber, da seine Emotionen vollkommen ausgeschaltet waren, erschien ihm der Plan erstaunlich klar und einfach.
Wegen dieses seines wohlkalkulierten Plans suchte Fandorin das Konsulat auf, genauer gesagt, seine Wohnung.
Mit abgewandtem Gesicht ging er an der Schlafzimmertür vorbei (das gab ihm sein Selbsterhaltungstrieb ein), schaltete im Kabinett das Licht ein und wühlte in seinen Büchern. Methodisch nahm er Band für Band in die Hand, blätterte ihn durch und griff nach dem nächsten.
Dabei murmelte er Unverständliches vor sich hin.
»Edgar Allan Poe? Nerval? Schopenhauer?«
Er war so beschäftigt, daß er die leisen Schritte hinter sich überhörte. Plötzlich vernahm er den heftigen, nervösen Ausruf: »Don’t move or I
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