Diamantene Kutsche
der Rand der Sonne, und bald glich die Wasserfläche einer brennenden Steppe.
Fandorin verspürte unwillkürlich eine Art Dankbarkeit – er würde einen schönen Tod haben. Das mußte man den Japanern lassen: Sie verstanden etwas vom Tod.
»Ich begreife alles, bis auf eines«, sagte er, ohne Tamba anzusehen. »Warum bin ich noch immer am Leben?«
Tamba erwiderte: »Sie hatte zwei Bitten. Die erste – daß ich dich nicht töte.«
»Und die zweite?«
»Daß ich dich den WEG lehre. Wenn du willst. Das erste Versprechen habe ich erfüllt, ich werde auch das zweite erfüllen. Obgleich ich weiß, daß unser WEG nichts für dich ist.«
»Ich brauche euren WEG nicht, vielen Dank.« Fandorin sah den Jonin an, unschlüssig, ob er ihm glauben konnte. Womöglich war das ja nur ein weiterer jesuitischer Trick? Vielleicht holte Tambagleich kurz aus, und er, Fandorin, flog hinunter und landete auf scharfen Steinen? »Ein schöner WEG, der auf Niedertracht und Betrug beruht.«
Tamba sagte: »Ich habe dich hergeführt, damit du siehst, wie die Finsternis geht und das Licht kommt. Aber ich hätte mit dir bei Sonnenuntergang herkommen müssen, wenn das Gegenteil geschieht. Sag mir, was ist besser: Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?«
»Komische Frage.« Fandorin zuckte die Achseln. »Beides sind notwendige Naturerscheinungen.«
»Genau. Die Welt besteht aus Licht und Finsternis, aus Gut und Böse. Derjenige, der sich nur an das Gute hält, ist unfrei, er gleicht einem Wanderer, der nur am hellichten Tag zu reisen wagt, oder einem Schiff, das nur bei Fahrtwind aufbricht. Wahrhaft stark und frei ist nur, wer sich nicht fürchtet, nachts durch einen dunklen Wald zu laufen. Der dunkle Wald – das ist die Welt in ihrer ganzen Fülle, das ist die menschliche Seele in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Bist du vertraut mit dem Buddhismus der Großen und der Kleinen Kutsche?«
»Ich habe davon gehört. Die Kleine Kutsche, das ist, wenn der Mensch sich durch Selbstvervollkommnung retten will. Die Große Kutsche, das ist, wenn man nicht nur sich selbst retten will, sondern die ganze M-menschheit. So in der Art.«
Tamba sprach: »In Wahrheit sind beide Kutschen ein und dasselbe. Beide verlangen, daß man auschließlich nach den Regeln des Guten lebt. Sie sind für gewöhnliche, schwache Menschen gedacht und darum halbherzig. Ein starker Mensch muß sich nicht an das Gute binden, er muß nicht ein Auge zukneifen, um nicht aus Versehen etwas Schlimmes zu sehen.«
Tamba sprach: »Es gibt eine dritte Kutsche, sie besteigen nur wenige Auserwählte. Sie heißt Kongojo, Diamantene Kutsche, weil sie so hart ist wie Diamant. Wir Schattenkrieger lenken dieDiamantene Kutsche. In ihr dahinzujagen heißt, nach den Regeln des ganzen Universums zu leben, das Böse eingeschlossen. Also ein Leben ohne Regeln oder gegen die Regeln. Der WEG der Diamantenen Kutsche ist der WEG zur Wahrheit durch Erforschung der Gesetze des Bösen. Eine Geheimlehre für Eingeweihte, die zu jedem Opfer bereit sind, um sich selbst zu finden.«
Tamba sprach: »Der WEG der Diamantenen Kutsche lehrt, daß die Große Welt, also die Welt der eigenen Seele, ungleich wichtiger ist als die Kleine Welt, also die Welt der menschlichen Beziehungen. Frage einen Anhänger jeder beliebigen Religion, was ein Gerechter ist, und er wird antworten: Ein Gerechter ist, wer sich selbst für andere opfert. In Wahrheit ist es in Buddhas Augen das schlimmste Verbrechen, sich für andere zu opfern. Der Mensch wird geboren, lebt und stirbt allein vor Gott. Alles andere sind nur Trugbilder, geschaffen von der Höchsten Macht, um den Menschen zu prüfen. Der große Glaubenslehrer Shinran hat gesagt: ›Wenn man sich tief in den Willen von Buddha Amida hineindenkt, dann erweist sich, daß das ganze Weltgebäude nur um meinetwillen existiert.‹«
Tamba sprach: »Gewöhnliche Menschen sind hin und hergerissen zwischen der illusorischen Welt der menschlichen Beziehungen und der wahren Welt ihrer Seele und verraten letztere ständig im Namen der ersten. Wir Schattenkrieger dagegen können Diamant von Kohle unterscheiden. Alles, was die gewöhnliche Moral predigt, ist für uns Schall und Rauch. Töten ist keine Sünde, Betrug ist keine Sünde, Grausamkeit ist keine Sünde – wenn sie nötig sind, um in der Diamantenen Kutsche den vorbestimmten WEG zu nehmen. Verbrechen, für welche die Lenker der Großen und der Kleinen Kutsche in die Hölle stürzen, sind für die Lenker der Diamantenen Kutsche
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