Diamantene Kutsche
Minuten. Punkt eins. Und dann, bedenken Sie die Uhrzeit – faktisch im Morgengrauen. Was gibt es um fünf Uhr früh auf dem Bahnhof Interessantes außer der Abfahrt des Zuges nach Charbin? Punkt zwei. Und dann natürlich Punkt drei.« Fandorins Stimme wurde hart. »Was sollten die S-saboteure mit dem Zug nach P-pawelezk? Was sollten sie denn auf der P-pawelezker Strecke sprengen – Heu und Stroh, Möhren und Radieschen? Nein, unsere Verdächtigen sitzen im Zug nach Charbin.«
»Soll ich per Telegramm veranlassen, daß der Zug gestoppt wird?«
»Auf keinen Fall. Sie haben Melinit bei sich. Wer weiß, was das für Leute sind. Wenn sie V-verdacht schöpfen, lassen sie es womöglich d-detonieren. Keinerlei Unterbrechungen, kein außerplanmäßiger Halt. Die Männer sind nervös und mißtrauisch genug. Sagen Sie lieber, wo ist der erste fahrplanmäßige Halt?«
»Das ist ein Kurierzug. Also hält er wohl erst in Wladimir. Ich schaue gleich mal auf den Fahrplan … Um neun Uhr dreißig.«
Die mächtige Lokomotive, die Danilow eilig hatte bereitstellen lassen, holte den Charbiner Zug an der Grenze des Moskauer Gouvernements ein und hielt sich dann in steter Entfernung von einer Werst, die sie erst kurz vor Wladimir verkürzte.
Nur eine Minute nach dem Charbiner Zug fuhren sie auf dem Nachbargleis ein. Fandorin sprang auf den Bahnsteig, noch bevor die Lokomotive zum Stehen kam. Der Kurierzug hielt hier nur zehn Minuten, jede Sekunde war kostbar.
Fandorin wurde von Rittmeister Lenz empfangen, dem Chef der Eisenbahngendarmerie Wladimir, der per Telefon genauestens über alles unterrichtet worden war. Er warf einen befremdeten Blick auf Fandorins Verkleidung (speckige Joppe, grauer Schnauzbart und Augenbrauen, auch die Schläfen grau, doch die hatte er nicht eigens färben müssen), wischte sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Glatze, stellte aber keine Fragen.
»Es ist alles bereit. Bitte.«
Den Rest berichtete er, während er Fandorin hinterhertrabte: »Der Karren steht bereit, das Personal ist zur Stelle. Sie lassen sich nicht blicken, wie befohlen.«
Der Beamte der Bahnhofspost, ebenfalls eingeweiht, stand nervös neben dem mit Post beladenen Karren und hatte, wie sein kreideweißes Gesicht verriet, große Angst. Das Zimmer war voller blauer Uniformen – die Gendarmen hockten auf dem Boden, obendrein mit eingezogenen Köpfen.
Er lächelte den Postbeamten an.
»Ganz ruhig, ganz ruhig, es wird nichts Besonderes geschehen.«
Er griff nach dem Karren und rollte ihn auf den Bahnsteig hinaus.
»Sieben Minuten«, flüsterte der Rittmeister ihm nach. Aus demPostwaggon, der gleich hinter der Lokomotive hing, schaute ein Mann in blauer Jacke heraus.
»Schläfst du, Wladimir?« rief er ärgerlich. »Was trödelt ihr herum?«
Langer Schnauzer, mittleres Alter. Breite Backenknochen? Ja, doch, überlegte Fandorin und flüsterte seinem Begleiter zu: »Nun zittern Sie doch nicht so. Gähnen Sie, Sie haben doch beinahe verschlafen.«
»Na ja … Ich hab geschlafen … Bin den zweiten Tag im Dienst«, stammelte der Postbeamte, wobei er eifrig gähnte und sich reckte.
Der verkleidete Fandorin warf indessen rasch die Post in die offene Tür und überlegte: Sollte er den Schnauzbart am Gürtel packen und auf den Bahnsteig zerren? Nichts einfacher als das.
Doch er beschloß, damit zu warten und erst zu überprüfen, ob die drei Kisten 15 mal 10 mal 10 Zoll hier waren.
Und das war gut so.
Er stieg in den Waggon und sortierte die Wladimirer Post auf drei Haufen: Briefe, Pakete, Päckchen.
Drinnen herrschte ein wahres Labyrinth aus gestapelten Säcken, Kartons und Kisten.
Fandorin ging eine Reihe ab, dann eine zweite, konnte die gesuchte Fracht jedoch nicht entdecken.
»Was spazierst du hier rum?« blaffte jemand aus dem dunklen Durchgang. »Mach schnell, beeil dich! Die Säcke da rüber, was quadratisch ist, da hin. Bist wohl neu, oder?«
Das war eine Überraschung: Ein zweiter Postmann, ebenfalls um die Vierzig, mit breiten Backenknochen und Schnauzbart. Welcher war der Richtige?
»Ja, ich bin neu«, krächzte Fandorin in heiserem Baß.
»Siehst aber alt aus.«
Der zweite Postmann trat zu dem ersten und stellte sich neben ihn. Bei beiden baumelte am Gürtel ein Halfter mit einer Nagant-Pistole.
»Wieso zittern dir denn die Hände, hast du gestern gefeiert?« fragte der zweite den Wladimirer Postmann.
»Ein bißchen …«
»Ich denke, du hast schon den zweiten Tag hintereinander Dienst?« fragte
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