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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Zar war ja bekanntlich kein Mann von scharfem Geist. Er erzählte hinterher lachend: ›Stellen Sie sich vor, Loris wollte mir Angst machen vor Japan! Ich solle mich vor Japan hüten!‹ Das war 1881, als Japan noch gar nicht recht als Land galt. Ist Ihnen diese Anekdote nie zu Ohren gekommen?«
    »D-doch.«
    »Solche Minister hatte der Befreierzar. Aber Ananas der Dritte konnte mit ihnen nichts anfangen. Ganz zu schweigen von seinem Sohn Nikolai … Wahrlich: ›Wen Gott strafen will, dem raubt er den Verstand.‹ Aber nun sagen Sie doch etwas! Ich rede mit Ihnen ganz aufrichtig, ohne Arg. Ich sorge mich von Herzen um Rußland!«
    »V-verstehe«, bemerkte Fandorin kühl.
    Nicht einmal die gemeinsame Mahlzeit trug zu größerer Nähe zwischen ihnen bei, zumal jeder seine eigenen Speisen verzehrte. Mylnikow ließ sich von einem Agenten eine Karaffe Ebereschenschnaps bringen, rosigen Speck und Salzgurken, Fandorin bekam von seinem Diener Reisröllchen mit rohen Heringsstückchen und eingelegtem Rettich. Von beiden Seiten erfolgten höfliche Einladungen zuzugreifen, die ebenso höflich abgelehnt wurden. Nach dem Essen rauchte Fandorin eine holländische Zigarre, Mylnikow lutschte einen Eukalyptusbonbon für die Nerven.
    Schließlich brach zur naturgegebenen Zeit der Morgen an.
    Auf dem Bahnhofsplatz erloschen die Laternen, von der feuchten Straße stieg Dampf auf, von schrägen Sonnenstrahlen durchschnitten, unter dem Fenster des Bestattungskontors hüpften Spatzen herum.
    »Da ist er!« sagte Fandorin leise, nachdem er eine halbe Stunde lang das Fernglas nicht von den Augen genommen hatte.
    »Wer?«
    »Unser M-mann. Ich rufe die Gendarmen an.«
    Mylnikow schaute in dieselbe Richtung wie Fandorin und klebte ebenfalls an seinem Fernglas.
    Über den breiten, fast menschenleeren Platz trippelte ein Mann, eine Ballonmütze über die Ohren gezogen.
    »Tatsächlich, das ist er!« flüsterte der Hofrat gierig und spielte Fandorin einen Streich, der im Plan nicht vorgesehen war: Er beugte sich weit aus dem Fenster und blies gellend in seine Trillerpfeife.
    Fandorin erstarrte mit dem Telefonhörer in der Hand.
    »Was soll das, sind Sie verrückt geworden?«
    Mit einem triumphierenden Grinsen beschied ihn Mylnikow: »Pustekuchen! Der Japaner gehört mir, mir!«
    Von allen Enden des Platzes rannten Agenten auf den Kurzbeinigen zu, vier Mann hoch.
    »Stehenbleiben!«
    Der Spion gehorchte und blieb stehen. Er drehte den Kopf nach allen Seiten, überzeugte sich, daß es keinen Fluchtweg gab, rannte aber trotzdem los – einer leeren Straßenbahn nach, die quietschend in Richtung Sazepa fuhr.
    Der Agent, der ihm entgegenlief, glaubte die Absicht des Feindes erkannt zu haben und schwang sich verwegen auf die vordere Plattform der Bahn.
    In diesem Moment hatte der Japaner die Bahn erreicht, sprangaber nicht hinein, sondern aus vollem Lauf in die Luft, klammerte sich an die Hängeleiter und war im Nu auf dem Dach.
    Der Agent im Waggon rannte zwischen den Bänken umher und begriff nicht, wo der Flüchtige abgeblieben war. Die drei übrigen Agenten schrien und fuchtelten mit den Armen, doch er verstand ihr wildes Gestikulieren nicht, und der Abstand zwischen ihnen und der Straßenbahn vergrößerte sich stetig.
    Vom Bahnhof aus verfolgten Schaulustige die kuriose Vorstellung: Reisende, Begleitpersonen und Kutscher.
    Fandorin beugte sich fast bis zum Gürtel aus dem Fenster und rief mit ohrenbetäubender, an die Posaune von Jericho gemahnender Stimme: »Halt die Bahn an, du Trottel!«
    Ob nun der Agent das Brüllen des Vorgesetzten gehört hatte oder selbst darauf gekommen war, jedenfalls rannte er zum Straßenbahnfahrer, und sogleich kreischten die Bremsen, die Bahn wurde langsamer, und die zurückgebliebenen Agenten holten sie rasch ein.
    »Ha, der entkommt uns nicht!« konstatierte Mylnikow zufrieden. »Meine Adler kriegen ihn. Jeder von ihnen ist soviel wert wie zehn von Ihren Eisenbahntrotteln.«
    Die Straßenbahn rutschte noch quietschend über die Gleise, und die kleine Gestalt im Jackett lief über das Dach, stieß sich mit dem Fuß ab und landete genau auf einem Zeitungskiosk an einer Ecke des Bahnhofsplatzes.
    »Ein Akrobat!« rief Mylnikow aus.
    Fandorin aber murmelte ein kurzes, eindeutig nicht russisches Wort und sah durchs Fernglas.
    Keuchend umstellten die Agenten die Holzbude. Die Köpfe emporgereckt, schwenkten sie die Arme und riefen etwas – zum Bestattungskontor drang nur »Mist, Mist, Mist!«
    Mylnikow lachte

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