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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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der Langnasige erstaunt.
    Der zweite Postmann beugte sich zur Tür hinaus und blickte zum Bahnhofsgebäude.
    Welcher ist es, versuchte Fandorin herauszufinden, während er rasch die Poststapel ablief. Oder sind sie es beide nicht? Wo sind die Kisten mit dem Melinit?
    Plötzlich krachte es ohrenbetäubend – der zweite Postmann hatte die Tür zugeschlagen und den Riegel vorgeschoben.
    »Was soll das, Matwej?« fragte der Langnasige. Matwej bleckte die gelben Zähne und entsicherte seine Pistole.
    »Ich weiß Bescheid! Drei Blaumützen am Fenster, und alle starren her! Für so was hab ich ein Gespür!«
    Unendliche Erleichterung war das erste, was Fandorin in diesem Augenblick empfand. Also hatte er sich nicht umsonst Brauen und Schnurrbart mit Kreide eingepudert, nicht umsonst drei Stunden lang Lokomotivenrauch eingeatmet.
    »Bist du verrückt, Matwej?« Der Langnasige begriff noch immer nichts und schaute heftig zwinkernd auf den schwarzglänzenden Lauf.
    Der Wladimirer Postmann dagegen kapierte sofort und preßte sich mit dem Rücken an die Wand.
    »Ganz still, Lukitsch. Halt dich da raus. Und du miese Laus, rede: Ist dein Packer ein Greifer? Ich bring dich um!« Der Mann packte den Wladimirer am Kragen.
    »Ich hab nur getan, was mir befohlen wurde … Haben Sie Erbarmen … Nur noch ein Jahr bis zur Pension …«, kapitulierte der Eingeborene sofort.
    »He, mein Bester, machen Sie keine Dummheiten!« rief Fandorinhinter den Kisten hervor. »Sie kommen hier sowieso nicht weg. Werfen Sie die Waffe …«
    Womit er nicht gerechnet hatte: Der Mann schoß, noch bevor Fandorin seinen Satz zu Ende gebracht hatte.
    Fandorin konnte sich gerade noch ducken, die Kugel pfiff dicht über seinen Kopf hinweg.
    »Ach, du Scheißkerl!« rief empört der Langnasige, den der Saboteur »Lukitsch« genannt hatte.
    Es krachte erneut. Zwei Stimmen vermischten sich – die eine stöhnte, die andere heulte auf.
    Fandorin kroch an den Rand des Poststapels und schaute dahinter hervor.
    Die Sache hatte eine üble Wendung genommen.
    Matwej saß in einer Ecke, die Hand mit dem Revolver ausgestreckt. Lukitsch lag auf dem Boden und fuhr sich mit blutbefleckten Fingern über die Brust. Der Wladimirer Postmann hielt die Hände vors Gesicht gepreßt und jaulte.
    Im fahlen Licht der elektrischen Lampe schwebte bläulicher Pulverqualm.
    Es wäre Fandorin ein leichtes gewesen, den Mistkerl zu erschießen, aber er brauchte ihn lebend und möglichst wenig versehrt. Darum streckte er die Hand mit dem Browning vor und schoß zwei Kugeln in die Wand, knapp neben dem Saboteur.
    Der wechselte, wie beabsichtigt, aus seiner Ecke hinter einen Stapel Pappkartons.
    Ununterbrochen weiter schießend (drei, vier, fünf, sechs, sieben), sprang Fandorin auf und rannte aus vollem Lauf gegen die Kartons – die stürzten ein und begruben den Mann in seinem Versteck.
    Der Rest war eine Sache von zwei Sekunden.
    Fandorin packte einen Lederstiefel, zog den Saboteur ans Licht und versetzte ihm einen Handkantenschlag überm Schlüsselbein.
    Einer war gefaßt.
    Nun galt es den zweiten zu finden, der die Päckchen abgeholt hatte.
    Aber wie? Und war er überhaupt im Zug?
     
    Doch sie mußten den Bebrillten gar nicht suchen – er fand sich von selbst.
    Als Fandorin den Riegel der schweren Waggontür löste und aufriß, sah er als erstes Menschen den Bahnsteig entlangrennen und vernahm ängstliche Schreie und Frauenkreischen.
    Vor dem Postwaggon stand der bleiche Rittmeister Lenz und verhielt sich merkwürdig: Statt Fandorin anzusehen, der sich gerade einer tödlichen Gefahr ausgesetzt hatte, schielte der Gendarm immer wieder zur Seite.
    »Hier, übernehmen Sie«, sagte Fandorin und zog den bewußtlosen Saboteur zur Tür. »Und eine Trage her, hier ist ein Verwundeter.« Er wies mit dem Kopf auf die flüchtenden Menschen. »Sind sie wegen der Schießerei so aufgescheucht?«
    »Melde gehorsamst: Nein. Ein Unglück, Herr Ingenieur. Kaum waren die Schüsse gefallen, bin ich mit meinen Leuten auf den Bahnsteig gelaufen, um Ihnen zu Hilfe zu eilen. Da ertönte plötzlich aus dem Waggon dort (Lenz zeigte in die Richtung) ein wilder Schrei: ›Lebend kriegt ihr mich nicht!‹ Und dann ging es los …«
    Zwei Gendarmen schleppten den verhafteten Matwej weg, Fandorin aber sprang auf den Bahnsteig und schaute in die angegebene Richtung.
    Er sah einen grünen Dritter-Klasse-Waggon, vor dem keine Menschenseele stand – lediglich hinter den geschlossenen Fenstern huschten bleiche Gesichter

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