Diamantene Kutsche
Dann lief er zu dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, tastete den Rahmen ab, fand aber keinen Mechanismus und schlug einfach mit der Faust gegen die glänzende Oberfläche.
Die Agenten, die dem »Schwarzbraunen« zusahen, waren verblüfft – der Spiegel fiel klirrend in eine schwarze Nische.
»Na also«, schnurrte Fandorin zufrieden und drückte einen Knopf. In der Tapete öffnete sich eine Tür.
Hinter dem falschen Spiegel befand sich ein Verschlag. Auf der Rückseite gab es ein kleines Fenster, durch das man den Nachbarraum, das Schlafzimmer, überblicken konnte. Die Hälfte des Verstecks nahm ein Fotoapparat auf einem dreibeinigen Stativ ein, doch der interessierte Fandorin nicht.
»Abstehende Ohren, haben Sie gesagt?« fragte er, bückte sich und betrachtete etwas auf dem Boden. »Der hier?«
Er zog einen leblosen Körper mit einem kurzen, dicken Pfeil in der Brust hervor.
Die Agenten beugten sich über ihren toten Kameraden, Fandorin eilte in das gegenüberliegende Zimmer.
»Derselbe Trick«, erklärte er dem Ältesten, der ihm gefolgt war. »Eine Feder unterm Parkett. Im Schrank ist eine A-armbrust versteckt. Der Tod tritt sofort ein, die Pfeilspitze ist vergiftet. Die Leiche ist dort.« Er zeigte auf den Spiegel. »Überzeugen Sie sich.«
Doch in diesem Versteck, das haargenau so aussah wie das erste, fanden sich gleich drei Körper.
»Lepinsch«, seufzte der Agent, als er den obersten hervorzog. »Sapljukin. Und ganz unten Kutko.«
Die fünfte Leiche steckte im Schlafzimmer, in einem Spalt hinterm Kleiderschrank.
»Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, sie einzeln zu töten. Wahrscheinlich war es so«, begann Fandorin den Hergang zu rekonstruieren. »Die Männer, die in die Zimmer links und rechts gingen, starben zuerst, durch Pfeile, und wurden im Spiegel v-versteckt. Der im Schlafzimmer wurde mit bloßen Händen getötet – jedenfalls weist er keine sichtbaren Verletzungen auf. Sapljukin und Lepinsch wurden die Halswirbel gebrochen. Dem weit aufgerissenenMund von Lepinsch nach zu urteilen, hat er seinen Mörder noch gesehen. Aber nicht mehr … Der Akrobat hat die beiden in der Diele getötet, in das rechte Zimmer geschleppt und über Kutko geworfen. Nur eins verstehe ich nicht: Warum ist Mylnikow unversehrt geblieben? Wahrscheinlich hat sich der Japaner amüsiert über sein Geschrei ›Bansai!‹ Na schön, genug der Lyrik. Die Hauptsache steht uns noch bevor. Sie« – er zeigte mit dem Finger auf einen der Agenten – »kümmern sich um Ihren verwirrten Vorgesetzten und bringen ihn nach Kanatschikowo 1 . Und Sie beide kommen mit mir.«
»Wohin, Herr Fandorin?« fragte der Ältere.
»An die Moskwa. Verdammt, es ist schon halb eins, und wir müssen die Stecknadel im Heuhaufen suchen!«
Wie soll man ein nicht näher bestimmtes Lagerhaus an der Moskwa finden? Die altehrwürdige Metropole besitzt keinen Frachthafen, die Güterkais beginnen an der Krasnocholmski-Brücke und ziehen sich stromabwärts über mehrere Werst hin bis nach Koshuchowo.
Sie begannen an der Taganka, am Kai der »Gesellschaft für Dampfschiffahrt und Handel des Wolgabeckens«. Dann folgten der Anlegeplatz des »Handelshauses der Gebrüder Kamenski«, die Lagerhäuser der Dampfschiffahrtsgesellschaft von Madame Kaschina aus Nishegorod, die Speicher der Genossenschaft der Moskwa-Schiffahrt und so weiter und so weiter.
Sie fuhren mit einer Kutsche am Ufer entlang, schauten in die Dunkelheit und horchten auf Geräusche. Wer sollte um diese Zeit hier arbeiten außer Menschen, die etwas zu verbergen hatten?
Hin und wieder gingen sie zum Fluß hinunter und lauschten am Wasser – die meisten Anlegestellen lagen am linken Ufer, es gab jedoch auch einige am rechten.
Dann stiegen sie wieder in die Kutsche und fuhren weiter.
Fandorin wurde von Minute zu Minute finsterer. Die Suche zog sich hin – seine Taschenuhr klingelte zweimal. Wie zur Bestätigung schlug die Turmuhr des Nowospasski-Klosters ebenfalls zweimal, und Fandorins Gedanken schweiften zu Göttlichem ab.
Eine absolutistische Monarchie kann sich nur auf den Glauben des Volkes an ihre mystische, überirdische Herkunft stützen, dachte Fandorin mürrisch. Ist dieser Glaube gebrochen, geht es Rußland genauso wie Mylnikow. Das Volk beobachtet den Verlauf dieses unglückseligen Krieges und überzeugt sich mit jedem Tag mehr, daß der japanische Gott entweder stärker ist als der russische oder seinen Gesalbten mehr liebt als unser Gott unseren Zaren
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