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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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einen Anarchisten, einen ganz ausgekochten Burschen, der lag hier zwei Wochen eingewickelt wie ein Säugling. Er hat geknurrt, sich über den Boden gerollt, wollte sich den Schädel an der Wand einschlagen – er wollte partout nicht am Galgen verrecken. Aber es hat ihm nichts genützt, ich hab ihn brav dem Henker übergeben.«
    Fandorin verzog angewidert das Gesicht und bemerkte: »Der hier ist kein Anarchist.« Dann ging er, eine unerklärliche Wehmut im Herzen.
    Das rätselhafte Verhalten des Gefangenen, der sich zwar ergeben hatte, zugleich aber keinerlei Aussage machen wollte, ließ Fandorin keine Ruhe.
     
    Allein in der Zelle, verbrachte Rybnikow eine Weile mit der üblichen Gefangenbeschäftigung – er stand unter dem vergitterten Fenster und schaute auf das kleine Stück Abendhimmel.
    Rybnikow war guter Stimmung.
    Beide Dinge, derentwegen er nicht auf dem morastigen Grund der Moskwa geblieben, sondern aus dem Wasser aufgetaucht war, hatte er erledigt.
    Erstens hatte er sich überzeugt, daß der wichtigste Lastkahn, beladen mit achthundert Kisten, unentdeckt geblieben war.
    Zweitens hatte er dem Mann in die Augen gesehen, von dem er so viel gehört und an den er so oft gedacht hatte.
    Ja, das war wohl alles.
    Bis auf …
    Er setzte sich auf den Boden, griff nach dem kurzen Bleistift, den der Gefangene bekam für den Fall, daß er eine schriftliche Aussage machen wollte, und schrieb in japanischer Kurzschrift einen Brief, den er begann mit der Anrede: »Vater!«
    Dann gähnte er und streckte sich auf der Matte aus.
    Er schlief ein.
    Rybnikow hatte einen wunderbaren Traum. Er jagte dahin in einer offenen Kutsche, die in allen Regenbogenfarben schillerte. Ringsum herrschte vollkommene Dunkelheit, aber fern am Horizont strahlte ein helles, gleichmäßiges Licht. Er saß nicht allein in der Wunderkutsche, konnte die Gesichter seiner Begleiter jedoch nicht sehen, denn sein Blick war ausschließlich nach vorn gerichtet, auf die Quelle des Strahlens, das rasch näher kam.
    Der Gefangene schlief höchstens eine Viertelstunde.
    Er öffnete die Augen und lächelte, noch ganz unter dem Eindruck des wunderbaren Traums.
    Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Rybnikows ganzes Wesen war erfüllt von klarer Kraft und diamantener Härte.
    Er las den Brief an seinen Vater noch einmal und verbrannte ihn, ohne zu zögern, in der Kerzenflamme.
    Dann zog er sich bis zum Gürtel aus.
    Unter der linken Achsel des Gefangenen klebte ein hautfarbenesPflaster, so gut getarnt, daß die Wärter es bei der Durchsuchung nicht entdeckt hatten.
    Rybnikow riß das Pflaster ab – darunter befand sich eine Rasierklinge. Er setzte sich bequem hin und fuhr sich mit der Klinge rasch einmal rund um das Gesicht. Dann griff er mit den Fingernägeln unter die Haut, zog sie von der Stirn bis zum Kinn vollständig herunter und durchtrennte sich dann, ohne einen einzigen Laut, mit der Klinge die Kehle.

ZWEITES BUCH
Zwischen den Zeilen
    Japan 1878

Der Flug des Schmetterlings
    Der Schmetterling Omurasaki wollte von einer Blume zur anderen fliegen. Vorsichtig entfaltete er seine zarten azurblauen Flügel mit den weißen Punkten und erhob sich in die Luft – nur ein winziges Stück, doch da kam ein heftiger, mutwilliger Wind auf, ergriff das schwerelose Geschöpf, warf es hoch hinauf in den Himmel und ließ es nicht mehr los, trug es binnen weniger Minuten von den Hügeln in die Ebene, in der sich die Stadt erstreckte, wirbelte den Gefangenen über den Ziegeldächern der Fremdenviertel herum, jagte ihn im Zickzack über das exakt geometrisch ausgerichtete Settlement, schleuderte ihn sodann zum Meer und legte sich ermattet.
    Wieder frei, wollte der Omurasaki sich auf der grünen Fläche niederlassen, die aussah wie eine Wiese, gewahrte den Trug jedoch rechtzeitig und konnte noch aufflattern, bevor die durchsichtigen Spritzer ihn erreichten. Er flog eine Weile über der Bucht herum, wo prächtige Segler und häßliche Dampfer ankerten, fand daran nichts Interessantes und kehrte um in Richtung Pier.
    Dort fiel die Aufmerksamkeit des Schmetterlings auf die Menge der Wartenden, die von oben aussah wie eine blühende Wiese: bunte Hauben, Hüte und Blumensträuße. Der Omurasaki kreiste auf der Suche nach einem reizvollen Objekt ein wenig herum und traf seine Wahl – er setzte sich auf die Nelke im Knopfloch eines hageren Herrn, der durch eine blaue Brille in die Welt blickte.
    Die Nelke war von saftigem Rot, vor kurzem erst geschnitten, und die Gedanken des

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