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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Annalen der Trauer. Die Fortsetzung soll in den nächsten Nummern folgen. Ich schaue nach, ob Kampfgefährten von mir darunter sind.« Rybnikow las vor, jedes Wort auskostend: »Auf dem Panzerkreuzer ›Fürst Kutusow-Smolenski‹: der Vizekommandeur des Geschwaders Konteradmiral Leontjew, der Kommandant des Schiffes, Kapitän ersten Ranges Endlung, der Schatzmeister des Geschwaders, Staatsrat Sjukin, der Erste Offizier, Kapitän zweiten Ranges von Schwalbe …«
    »Ach, hören Sie auf!« Glikerija hob abwehrend die Hände. »Ich will das nicht hören! Wann ist dieser schreckliche Krieg nur endlich vorbei!«
    »Bald. Der tückische Feind wird durch christlichen Kampfgeist geschlagen werden«, versprach Rybnikow, legte die Zeitung beiseite und holte ein Buch heraus, in das er sich unverzüglich und mit noch größerer Konzentration vertiefte.
    Die Dame blinzelte kurzsichtig, um den Titel zu entziffern, doch das Buch war in bräunliches Papier eingeschlagen.
    Plötzlich quietschten die Bremsen, und der Zug hielt.
    »Kolpino?« fragte die Lidina erstaunt. »Merkwürdig, hier hält der Kurierzug sonst nie.«
    Rybnikow beugte sich aus dem Fenster und fragte den Stationsvorsteher: »Warum halten wir?«
    »Verzeihung, Herr Offizier, wir müssen einen Sonderzug mit dringender Militärfracht vorbeilassen.«
    Da sich ihr Reisegefährte abgewandt hatte, nutzte Glikerija die Gelegenheit und befriedigte ihre Neugier: Rasch schlug sie den Buchumschlag zurück, hielt sich eine hübsche Lorgnette mit goldener Kette vor die Augen und verzog das Gesicht. Das Buch, in dem der Stabskapitän so eifrig las, hieß: »Tunnel und Brücken. Kleines Handbuch für Eisenbahner«.
    Ein Telegrafist mit einem Papierstreifen in der Hand kam zum Stationsvorsteher gelaufen. Der las die Depesche, zuckte die Achseln und schwenkte seine Flagge.
    »Was ist los?« fragte Rybnikow.
    »Alle naselang was anderes. Ich soll abfahren lassen, ohne auf den Sonderzug zu warten.«
    Der Zug fuhr an.
    »Sie sind wohl Militäringenieur, ja?« erkundigte sich Glikerija.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Sie mochte nicht gestehen, daß sie den Titel des Buches gelesen hatte, bewies aber Geistesgegenwart – sie zeigte auf das längliche Lederetui.
    »Na deswegen. Das ist doch für technische Zeichnungen, oder?«
    »Ach so, ja.« Rybnikow senkte die Stimme. »Ein Geheimdokument. Ich bringe es nach Moskau.«
    »Und ich dachte, Sie seien im Urlaub. Besuchen Ihre Familie oder Ihre Eltern.«
    »Ich bin nicht verheiratet. Wie soll man mit solchem Einkommen eine Familie gründen? Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Und Eltern habe ich keine. Ich bin Vollwaise. Sozusagen eine sprichwörtliche Kasaner Waise – im Regiment hat man mir wegen meiner schrägen Augen den Spitznamen ›Tatare‹ angehängt.«
    Nach dem Halt in Kolpino wurde der Stabskapitän lebhafter und gesprächiger, seine breiten Backenknochen röteten sich sogar ein wenig.
    Plötzlich sah er zur Uhr und erhob sich.
    »Pardon, ich gehe kurz hinaus, rauchen.«
    »Rauchen Sie ruhig hier, ich bin es gewöhnt«, erlaubte Glikerija ihm gnädig. »George raucht Zigarren. Rauchte, meine ich.«
    Rybnikow lächelte verwirrt.
    »Bitte um Vergebung. Rauchen habe ich nur aus Taktgefühl gesagt. Ich rauche nicht, eine unnütze Ausgabe. In Wahrheit muß ich aufs Klosett, ein natürliches Bedürfnis verrichten.«
    Die Dame wandte sich vornehm ab.
    Das Lederetui nahm der Stabskapitän mit. Auf den indignierten Blick seiner Reisegefährtin hin erklärte er entschuldigend: »Ich darf es nicht aus den Augen lassen.«
    Glikerija schaute ihm nach und murmelte: »Wie unsympathisch er doch ist.« Und wandte sich zum Fenster.
    Der Stabskapitän aber lief rasch durch die zweite und dritte Klasse zum letzten Wagen und schaute auf die Bremsplattform hinaus.
    Von weitem ertönte ein langgezogenes, forderndes Tuten.
    Auf der Plattform standen der Oberschaffner und ein Wachgendarm.
    »Was zum Teufel soll das!« sagte der erste. »Das ist bestimmt der Sonderzug. Dabei stand im Telegramm, daß er ausfällt!«
    Höchstens eine halbe Werst hinter ihnen fuhr ein langer Zug mit zwei Lokomotiven. Die Lokomotiven stießen schnaubend schwarzen Rauch aus und zogen einen langen Schwanz verhüllter Waggons hinter sich her.
    Es war schon spät, nach zehn Uhr abends, aber es dämmerte gerade erst – die Weißen Nächte waren nicht mehr fern.
    Der Gendarm sah den Stabskapitän an und legte grüßend die Hand an die Mütze.
    »Verzeihen Sie, Euer Wohlgeboren,

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