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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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lag zurückgesetzt in einer Wand. Die alten Möbel und Bilder waren von den Roten Garden geplündert und später durch welche aus der Post-Mao-Ära ersetzt worden, die längst nicht so schön waren. Die Geschäftsleitung hielt Alkohol unter Verschluß, wenn die Schauspieler arbeiteten, da ihnen romantische Vorstellungen von trunksüchtigen kreativen Genies fremd zu sein schienen. Miranda stolperte aus ihrer Box heraus, machte sich ein Sodawasser auf und ließ sich auf einen Plastiksessel sinken. Sie hielt die zitternden Hände wie den Einband eines Buches zusammen und vergrub das Gesicht darin. Nach einigen tiefen Atemzügen kamen die Tränen, aber stumm, ein vorübergehendes Weinen, um Dampf abzulassen, nicht die Katharsis, auf die sie gehofft hatte. Sie wußte, sie hatte diese Katharsis auch noch nicht verdient, denn was geschehen war, machte nur den ersten Akt aus. Nur den Auftakt, oder wie immer sie in Büchern dazu sagten.
    »Harte Sitzung?« sagte eine Stimme. Miranda erkannte sie, aber nur so eben: Es war Carl Hollywood, der Dramaturg, ihr Boß. Aber heute nacht hörte er sich zur Abwechslung einmal nicht wie ein griesgrämiger Arsch an.
    Carl war Mitte Vierzig, ein Meter neunzig groß, kräftig gebaut und trug gern lange schwarze Mäntel, die fast bis auf den Boden reichten. Er hatte langes, lockiges, blondes, aus der Stirn gekämmtes Haar und pflegte eine Art Tut-Ench-Amun-Bärtchen. Er lebte entweder zölibatär oder war der Ansicht, daß die Besonderheiten seiner sexuellen Vorlieben und Bedürfnisse bei weitem zu komplex waren, um seine Mitarbeiter daran teilhaben zu lassen. Alle hatten eine Scheißangst vor ihm, und genau das gefiel ihm; er konnte seinen Job nicht durchziehen, wenn er mit allen Rakteuren gut Freund war.
    Sie hörte, wie er mit seinen Cowboystiefeln über den fadenscheinigen, fleckigen chinesischen Teppich gestapft kam. Er konfiszierte ihr Sodawasser. »Solltest dieses Blubberzeug nicht trinken, wenn du einen Weinkrampf hast. Kommt dir wieder zur Nase heraus. Du brauchst so was wie Tomatensaft - das ersetzt die verlorenen Elektrolyten. Ich sag dir was«, sagte er und klimperte mit seinem riesigen Schlüsselbund. »Ich mache eine Ausnahme und mixe dir eine richtige Bloody Mary. Normalerweise mache ich sie mit Tabasco, weil man sie dort, wo ich herkomme, so zubereitet. Aber da deine Schleimhäute schon gereizt genug sind, werde ich dir nur eine langweilige mixen.«
    Als er mit seiner Ansprache fertig war, hatte Miranda immerhin die Hände vom Gesicht genommen. Sie wandte sich von ihm ab.
    »Ist irgendwie komisch, in diesen kleinen Boxen zu rangieren, was«, sagte Carl, »irgendwie isoliert. Theater ist nicht immer so gewesen.«
    »Isoliert? Gewissermaßen«, sagte Miranda. »Aber heute nacht könnte ich etwas mehr Isolation vertragen.«
    »Willst du mir sagen, daß ich dich in Ruhe lassen soll, oder -« »Nein!« sagte Miranda und fand selbst, daß sie sich verzweifelt anhörte. Sie brachte ihre Stimme unter Kontrolle, bevor sie fortfuhr. »Nein, so hab ich es nicht gemeint. Es ist nur, daß man nie weiß, welche Rolle man spielen wird. Und einige der Rollen können einem ganz schön unter die Haut gehen. Wenn mir jemand ein Drehbuch von dem gezeigt hätte, was ich gerade gemacht habe, und mich gefragt hätte, ob ich interessiert bin, hätte ich abgelehnt.«
    »War es eine Pornosache?« sagte Carl Hollywood. Seine Stimme klang ein wenig erstickt. Plötzlich wurde er wütend. Er mußte mitten im Zimmer stehenbleiben und umklammerte die Bloody Mary, als wollte er das Glas mit der Faust zerquetschen.
    »Nein. Nichts dergleichen«, sagte Miranda. »Jedenfalls keine Pornographie in dem Sinne, wie du es meinst, obwohl man natürlich nie weiß, was die Leute aufgeilt.« »Wollte der Kunde aufgegeilt werden?« »Nein. Auf gar keinen Fall«, sagte Miranda. Dann, nach längerer Zeit, fuhr sie fort: »Es war ein Mädchen. Ein kleines Mädchen.«
    Carl sah sie fragend an, dann besann er sich auf seine Manieren, wandte sich ab und tat, als würde er die Schnitzereien an der Vorderseite der Bar bewundern.
    »Daraus ergibt sich die nächste Frage«, sagte Miranda, als sie sich mit ein paar Schlucken des Getränks gestärkt hatte, »warum mich ein Kinder-Raktiver so mitnehmen sollte.«
    Carl schüttelte den Kopf. »Das wollte ich nicht fragen.«
    »Aber es ist dir durch den Kopf gegangen.«
    »Was mir durch den Kopf geht, ist mein Problem«, sagte Carl. »Konzentrieren wir uns zunächst auf dein Problem.«

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