Diamond Age - Die Grenzwelt
Er runzelte die Stirn, nahm ihr gegenüber Platz und strich sich zerstreut mit der Hand durch die Haare. »Ist das dieser einträgliche Auftrag?« Er hatte Zugang zu ihren Arbeitsplänen; er wußte, womit sie ihre Zeit verbrachte.
»Ja.«
»Ich war bei einigen dieser Sitzungen dabei.«
»Das weiß ich.«
»Scheint etwas anderes als normales Kinderzeug zu sein. Der Bildungsaspekt ist da, aber es ist viel finsterer. Eine Menge alter Motive der Gebrüder Grimm. Packend.«
»Ja.«
»Ich finde es erstaunlich, daß ein Kind so viel Zeit –«
»Ich auch.« Miranda trank noch einen Schluck, dann biß sie die Spitze der Staudenselleriestange ab und kaute eine Zeitlang darauf herum, um Zeit zu gewinnen. »Es läuft darauf hinaus«, sagte sie, »daß ich hier jemand anderem das Kind erziehe.«
Carl sah ihr zum erstenmal seit einiger Zeit direkt in die Augen. »Und gerade ist eine schlimme Scheiße passiert«, sagte er.
»Eine schlimme Scheiße, ja.«
Carl nickte.
»So schlimm, sagte Miranda, »daß ich nicht einmal weiß, ob das Mädchen tot ist oder noch lebt.«
Carl sah zu der verzierten Uhr an der Wand auf, deren Zifferblatt gelb vom angesammelten Teer und Nikotin von anderthalb Jahrhunderten war. »Wenn sie lebt«, sagte er, »dann braucht sie dich wahrscheinlich.«
»Richtig«, sagte Miranda. Sie stand auf und ging auf die Tür zu.
Dann, bevor Carl reagieren konnte, drehte sie sich auf der Stelle, bückte sich und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
»Och, hör auf«, sagte er.
»Bis später, Carl. Danke.« Sie lief die schmale Treppe hinauf zu ihrer Box.
Baron Burt lag tot auf dem Fußboden des Dunklen Schlosses. Prinzessin Nell hatte schreckliche Angst, weil soviel Blut aus seiner Wunde floß, aber sie ging dennoch tapfer zu ihm und nahm ihm den Schlüsselring mit den zwölf Schlüsseln ab. Dann sammelte sie ihre Freunde der Nacht ein, verstaute sie in einem kleinen Rucksack und richtete in aller Hast einen Picknickkorb, während Harv Decken und Seile und Werkzeuge für die Reise zusammensuchte.
Sie durchquerten den Hof des Dunklen Schlosses und gingen zu dem Tor mit den zwölf Schlössern, als plötzlich die böse Königin vor ihnen auftauchte, groß wie eine Riesin, in Blitze und Donnerwolken gehüllt! Tränen quollen aus ihren Augen und verwandelten sich in Blut, während sie an ihren Wangen hinabliefen.
»Ihr habt ihn mir genommen!« schrie sie. Und Nell begriff, daß dies etwas Schreckliches für ihre böse Stiefmutter war, denn ohne Mann war sie schwach und hilflos. »Dafür«, fuhr die Königin fort, »verfluche ich euch, daß ihr für alle Zeiten in diesem Dunklen Schloß eingesperrt bleibt!« Und sie streckte eine Hand aus wie eine Klaue und riß Prinzessin Nell den Schlüsselbund aus der Hand. Dann verwandelte sie sich in einen großen Geier und flog übers Meer fort, ins Land Jenseits.
»Wir sind verloren!« weinte Harv. »Jetzt werden wir niemals von hier fortkommen!« Aber Prinzessin Nell gab die Hoffnung nicht auf.
Kaum war die Königin hinter dem Horizont verschwunden, tauchte ein anderer Vogel auf und kam auf die beiden zugeflogen. Es war der Rabe, ihr Freund aus dem Lande Jenseits, der sie ab und an besuchen kam und mit Geschichten aus fernen Ländern und berühmten Helden unterhielt. »Eure Chance zur Flucht ist gekommen«, sagte der Rabe. »Die böse Königin ist in einen gewaltigen Zauberkampf mit den Feenkönigen und -königinnen verwickelt, die das Land Jenseits regieren. Werft ein Seil durch jene Schießscharte dort hinab und klettert hinab in die Freiheit!«
Prinzessin Nell und Harv erklommen die Treppe, die auf eine der Zinnen führte, welche das Haupttor des Dunklen Schlosses flankierten. Dort befanden sich schmale Schießscharten, durch die in alten Zeiten Soldaten Pfeile auf gegnerische Armeen abgeschossen hatten. Harv band ein Ende eines Seils an einen Haken in der Wand und warf das Seil durch die Schießscharte hinaus. Prinzessin Nell warf ihre Freunde der Nacht hinaus, da sie wußte, sie würden unversehrt unten landen. Dann kletterte sie durch die Schießscharte und an dem Seil hinab in die Freiheit.
»Folge mir, Harv!« rief sie. »Hier unten ist alles gut, und es ist viel heller, als du dir vorstellen kannst!«
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich bin zu groß und passe nicht durch das Fenster.» Dann warf er die Brotlaibe, Käsestücke, Weinschläuche und eingelegten Gemüse hinaus, die sie für die Reise eingepackt hatten.
»Dann klettere ich wieder an dem
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