Diamond Age - Die Grenzwelt
daraufhin seine eigene Geschichte, so wie Dinosaurier vor ihm in der Fibel. Es war die Geschichte, wie er und seine Brüder von zu Hause ausgerissen und Katzen, Geiern, Wieseln, Hunden und Menschen zum Opfer gefallen waren, die sie nicht als unerschrockene kleine Abenteurer sahen, sondern als Mahlzeiten. Peter hatte als einziger überlebt, weil er der klügste war.
»Ich habe beschlossen, daß ich meine Brüder eines Tages rächen würde«, sagte Peter.
»Hast du es getan?«
»Nun, das ist auch eine lange Geschichte.«
»Erzähl sie mir!« sagte Prinzessin Nell.
Aber bevor Peter mit dem nächsten Teil seiner Geschichte beginnen konnte, sahen sie einen Fremden, der auf sie zukam. »Wir sollten Ente und Purpur wecken«, sagte Peter.
»Ach, laß sie schlafen«, sagte Prinzessin Nell. »Sie können den Schlaf gebrauchen, und dieser Fremde sieht nicht so böse aus.«
»Wie genau sieht denn ein böser Fremder aus?« fragte Peter.
»Du weißt schon, wie ein Wiesel oder ein Geier«, sagte Prinzessin Nell.
»Hallo, junge Dame«, sagte der Fremde, der teure Kleidung und Juwelen trug. »Mir ist nicht entgangen, daß du neu in unserer wunderschönen Elsterstadt und vom Glück verlassen bist. Ich kann nicht in meinem gemütlichen warmen Haus sitzen und meine gewaltigen, köstlichen Mahlzeiten verzehren, ohne Schuldgefühle zu haben, da ich weiß, daß du hier bist und leidest. Möchtest du nicht mit mir kommen, damit ich mich um dich kümmern kann?«
»Ich kann meine Freunde nicht zurücklassen«, sagte Prinzessin Nell.
»Selbstverständlich nicht - das hab ich auch nicht gesagt«, antwortete der Fremde. »Zu dumm, daß sie schlafen. Hör zu, ich habe eine Idee! Du kommst mit mir, dein Kaninchenfreund da bleibt hier und behält deine schlafenden Freunde im Auge, und ich zeige dir mein Zuhause - du weißt schon, um dir zu beweisen, daß ich keiner von diesen unheimlichen Fremden bin, die versuchen, dich zu übertölpeln, wie man es immer wieder in den dummen Kindergeschichten hört, die nur kleine Babys lesen. Du bist doch kein kleines Baby, oder?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Prinzessin Nell.
»Dann komm mit mir, hör mich unvoreingenommen an, überprüfe mich, und wenn ich ein netter Kerl bin, kommst du zurück und holst den Rest deiner kleinen Truppe. Komm schon, die Zeit ist knapp!«
Prinzessin Nell fiel es äußerst schwer, nein zu dem Fremden zu sagen. »Geh nicht mit ihm, Nell!« sagte Peter. Aber schließlich ging Nell trotzdem mit ihm. Im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß es falsch war, aber ihr Kopf war ganz durcheinander, und weil sie immer noch ein kleines Mädchen war, glaubte sie nicht, daß sie zu einem Erwachsenen nein sagen konnte.
An dieser Stelle wurde die Geschichte außerordentlich raktiv. Nell blieb eine Weile in dem Raktiven und versuchte verschiedene Varianten. Manchmal gab ihr der Mann etwas zu trinken, und sie schlief ein. Aber wenn sie sich weigerte, das Getränk anzunehmen, packte und fesselte er sie. In jedem Fall entpuppte sich der Mann immer als Pirat, oder aber er verkaufte Prinzessin Nell an andere Piraten, die sie festhielten und nicht mehr gehen ließen. Nell versuchte jeden Trick, der ihr einfiel, aber es schien, als wäre der Raktive so gemacht, daß sie unter gar keinen Umständen mehr verhindern konnte, Sklavin der Piraten zu werden, als sie erst einmal die Entscheidung getroffen hatte, mit dem Fremden zu gehen.
Nach dem zehnten oder zwölften Versuch ließ sie das Buch in den Sand fallen und beugte sich weinend darüber. Sie weinte leise, damit Harv nicht aufwachte. Sie weinte lange Zeit und sah keinen Grund, damit aufzuhören, weil sie dachte, daß sie in der Falle saß, genau wie Prinzessin Nell in dem Buch.
»He«, sagte eine Männerstimme ganz leise. Zuerst dachte Nell, die Stimme würde aus der Fibel ertönen und beachtete sie gar nicht, weil sie wütend auf die Fibel war.
»Was hast du denn, kleines Mädchen?« sagte die Stimme. Nell versuchte, den Sprecher auszumachen, sah aber nur die grellbunten Lichter der Mediatrons. Sie rieb sich die Augen, aber sie hatte Sand an den Händen. Einen Moment geriet sie in Panik, weil ihr klargeworden war, daß sich tatsächlich jemand hier aufhielt, ein erwachsener Mann, und sie kam sich blind und hilflos vor.
Schließlich konnte sie ihn sehen. Er kauerte sechs Schritte von ihr entfernt, eine sichere Entfernung, und seine Stirn war ganz runzlig, so besorgt sah seine Miene aus.
»Es besteht kein Grund zu weinen«,
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