Diamond Age - Die Grenzwelt
eine Art Weinkrampf hinein, bei dem der ganze Körper sich aufzublähen und in seinen eigenen Säften zu köcheln scheint.
Nell unterdrückte den Drang, ungeduldig zu sein. Sie wußte wie alle anderen Mädchen, daß Fionas Vater vor einigen Jahren verschwunden und nie zurückgekehrt war. Man munkelte, daß er sich auf einer ehrenvollen offiziellen Mission befände, doch im Lauf der Jahre wich diese Überzeugung allmählich dem Verdacht, daß etwas Unehrenhaftes geschehen sein könnte. Für Nell wäre es leicht gewesen, darauf hinzuweisen, daß sie viel Schlimmeres durchgemacht hatte. Aber da sie das Ausmaß von Fionas Unglück erkannte, mußte sie davon ausgehen, daß sich ihre Freundin jetzt in einer schlimmeren Situation befand.
Als Fionas Mutter in einem kleinen Halbspurfahrzeug kam, um sie abzuholen, und das rote, verheulte Gesicht ihrer Tochter sah, verdunkelte sich ihre eigene Miene zu einem Ausdruck schwarzer Wut, und sie nahm Fiona mit, ohne Nell auch nur eines Blickes zu würdigen. Am nächsten Tag kam Fiona zur Kirche, als wäre nichts geschehen, und während der nächsten Woche in der Schule sagte sie auch kein Wort zu Nell. Tatsächlich sprach Fiona mit kaum jemandem ein Wort und verbrachte all ihre Zeit mit ihren Tagträumen.
Als Nell und Fiona am nächsten Samstag um sieben Uhr erschienen, sahen sie zu ihrem Erstaunen Miss Matheson, die, von einer Thermosteppdecke bedeckt, in ihrem Rollstuhl aus Holz und Korbgeflecht vor der Tür wartete. Bücher, Papier und Federhalter waren abgeräumt worden; die Namen der Mädchen hatte man von der Tafel vor dem Klassenzimmer gelöscht. »Es ist ein hübscher Frühlingstag«, sagte Miss Matheson. »Gehen wir etwas Fingerhut pflücken.«
Sie schlugen den Weg über die Hockeyplätze zu der Wiese ein, wo die Wildblumen wuchsen; die beiden Mädchen gingen zu Fuß, Miss Matheson wurde von ihrem Rollstuhl mit den vielspeichigen SmartRädern befördert.
»Chiselled Spant«,
sagte Miss Matheson, indem sie die Wörter gewissermaßen vor sich hin murmelte.
»Pardon, Miss Matheson?« sagte Nell.
»Ich habe gerade die SmartRäder betrachtet und an eine Reklame aus meiner Jugend gedacht«, sagte Miss Matheson. »Ich war ein wilder Feger, wißt ihr. Ich bin auf Skateboards durch die Straßen gefahren. Jetzt bewege ich mich immer noch auf Rädern fort, aber ganz anderen. Ich fürchte, in meinen früheren Leben habe ich mir zu viele Beulen und blaue Flecken geholt.«
»Es ist wunderbar, klug zu sein, und ihr solltet nie etwas anderes denken und nie aufhören, es zu sein. Aber wenn ihr älter werdet, lernt ihr, daß es ein paar Milliarden Menschen auf der Welt gibt, die alle gleichzeitig versuchen, klug zu sein, und was immer ihr mit eurem Leben anfangt, wird mit Sicherheit verschwinden – im Meer versinken –, wenn ihr es nicht zusammen mit Gleichgesinnten tut, die an euren Anteil denken und ihn fortentwickeln. Darum ist die Welt in Stämme eingeteilt. Es gibt viele kleinere Phylen, aber drei große. Was sind die drei großen?«
»New Atlantis«, begann Nell.
»Nippon«, sagte Fiona.
»Han«, beendeten sie die Aufzählung gemeinsam.
»Das ist richtig«, sagte Miss Matheson. »Wir nehmen traditionell Han wegen seiner enormen Größe und seines Alters in die Liste mit auf - auch wenn es in jüngster Zeit durch innere Unruhen erschüttert wird. Manche würden auch Hindustan dazuzählen, während andere es als unüberschaubare Vielfalt von Mikrostämmen betrachten, von einer Formel zusammengehalten, die wir nicht verstehen.
Es gab eine Zeit, als wir glaubten, daß alles, was der menschliche Geist bewerkstelligen kann, von genetischen Faktoren bestimmt werden würde. Selbstverständlich ein Irrtum, aber viele Jahre hindurch schien es plausibel zu sein, da die Unterschiede zwischen den Stämmen so deutlich hervortraten. Heute wissen wir, daß alles eine kulturelle Sache ist. Immerhin handelt es sich bei Kultur um nichts anderes – eine Gruppe Menschen, die bestimmte erworbene Eigenschaften gemeinsam haben.
Die Informationstechnologie hat die Kulturen von der Notwendigkeit befreit, bestimmte Gebiete zu besitzen, um sich zu vermehren; heute können wir überall leben. Das Gemeinschaftliche Ökonomische Protokoll regelt, wie das genau bewerkstelligt wird.
Manche Kulturen sind wohlhabend, andere nicht. Manche schätzen rationalen Diskurs und wissenschaftliche Methoden; manche nicht. Manche ermutigen freie Meinungsäußerung, andere unterdrücken sie. Gemeinsam haben alle
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