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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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nur eines, wenn sie sich nicht vermehren, werden sie von anderen geschluckt. Alles, was sie aufgebaut haben, wird abgerissen werden; was sie gelernt und aufgeschrieben haben, wird in alle Winde zerstreut. In früheren Zeiten war es nicht schwer, das zu bedenken, da die Grenzen konstant gesichert werden mußten. Heutzutage vergißt man es nur allzu leicht.
    New Atlantis vermehrt sich wie viele Stämme überwiegend durch Bildung. Das ist die
raison d'être
dieser Akademie. Hier trainiert ihr eure Körper durch Sport und Tanz und euren Geist durch Projekte. Und dann besucht ihr Miss Strickens Unterricht. Was ist der Sinn von Miss Strickens Unterricht? Weiß es jemand? Bitte sprecht frei heraus. Ihr bekommt keine Schwierigkeiten, was immer ihr auch sagt.«
    Nell antwortete nach einigem Zögern: »Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt einen Sinn hat.« Fiona sah sie nur an, als sie das sagte, und lächelte traurig.
    Miss Matheson lächelte. »Damit liegst du gar nicht so falsch. Miss Strickens Beitrag zum Unterricht ist gefährlich nahe daran, ohne wahre Substanz zu sein. Warum machen wir uns aber dann die Mühe?«
    »Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Nell.
    »Als Kind habe ich Karateunterricht genommen«, sagte Miss Matheson erstaunlicherweise. » Nach ein paar Wochen schmiß ich es hin. Ich konnte es nicht ertragen. Ich dachte, der Meister würde mir beibringen, mich zu verteidigen, wenn ich mit meinem Skateboard unterwegs war. Aber als allererstes ließ er mich den Fußboden fegen. Dann sagte er mir, wenn ich mich selbst verteidigen wollte, sollte ich mir eine Waffe kaufen. Ich kam in der Woche darauf wieder, und er ließ mich wieder den Boden fegen. Ich habe nie etwas anderes getan als fegen. Was hatte das für einen Sinn?«
    »Ihnen Demut und Selbstdisziplin beizubringen«, sagte Nell. Das hatte sie vor langer Zeit von Dojo gelernt.
    »Ganz genau. Das sind moralische Eigenschaften. Letztendlich basiert eine Gesellschaft auf moralischen Eigenschaften. Aller Wohlstand und technischer Fortschritt der Welt nützt nichts ohne dieses Fundament – das haben wir Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gelernt, als es aus der Mode kam, diese Dinge zu unterrichten.«
    »Aber wie können Sie sagen, daß es moralisch ist?« fragte Fiona. »Miss Stricken ist nicht moralisch. Sie ist so grausam.«
    »Jemanden wie Miss Stricken würde ich nicht zum Essen in mein Haus einladen. Ich würde sie nicht als Gouvernante für meine Kinder einstellen. Ihre Methoden sind nicht meine Methoden. Aber Leute wie sie sind unverzichtbar.
    Eine der schwersten Aufgaben der Welt ist es, gebildete Westlinge zur Zusammenarbeit zu bewegen«, fuhr Miss Matheson fort. »Das ist die Aufgabe von Leuten wie Miss Stricken. Wir müssen ihnen ihre Unzulänglichkeiten nachsehen. Sie ist wie ein Avatara – wißt ihr Kinder, was ein Avatara ist? Sie ist die Verkörperung eines Prinzips. Das Prinzip ist, daß außerhalb der sicheren und geschützten Grenzen unserer Phyle eine grausame Welt wartet, die uns weh tun wird, wenn wir nicht vorsichtig sind. Das ist keine leichte Aufgabe. Wir müssen alle Mitleid mit Miss Stricken empfinden.«
    Sie pflückten violette und magentarote Fingerhutsträuße, brachten sie in die Schule und stellten sie in jedem Klassenzimmer in Vasen - einen besonders großen Strauß reservierten sie für Miss Strickens Büro. Dann tranken sie Tee mit Miss Matheson, dann gingen sie nach Hause.
    Nell konnte dem nicht zustimmen, was Miss Matheson gesagt hatte; aber sie stellte fest, daß nach diesem Gespräch alles einfach wurde. Inzwischen hatte sie die Neoviktorianer durchschaut. Die Gesellschaft hatte sich auf wundersame Weise in ein geordnetes System verwandelt, wie die einfachen Computer, die sie in der Schule programmierten. Jetzt, wo Nell alle Regeln kannte, konnte sie ihn dazu bringen, alles zu tun, was sie wollte.
    »Frohsinn« nahm wieder die frühere Position eines unbedeutenden Ärgernisses an einem wunderbaren Schultag ein. Miss Stricken schlug sie von Zeit zu Zeit mit dem Lineal, aber nicht mehr so häufig, auch wenn sie sich wirklich mal kratzte oder nicht geradesaß.
    Fiona Hackworth hatte größere Schwierigkeiten und stand zwei Monate später wieder auf der Liste der Nachsitzer. Wenige Monate später kam sie überhaupt nicht mehr zur Schule. Es wurde bekanntgegeben, daß sie und ihre Mutter nach Atlantis/Seattle gezogen seien, und für alle, die ihr Briefe schreiben wollten, schlug man ihre Anschrift am Schwarzen Brett an.
    Aber

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