Diamond Age - Die Grenzwelt
Miss Stricken nach dem Unterricht war kurz und sachlich, keine Gewalt, nicht einmal Dramatik. Nell wurde eröffnet, daß ihre Leistungen im Frohsinn-Fach des Unterrichts so schlecht seien, daß sie Gefahr lief, zu versagen und von der Schule verwiesen zu werden; ihre einzige Hoffnung bestünde darin, künftig jeden Samstag acht Stunden lang nachzusitzen.
Nell wünschte sich mehr als alles andere, sie könnte sich weigern. Samstag war der einzige Tag der Woche, an dem sie gar keinen Unterricht hatte. An diesem Tag las sie immer in der Fibel, streifte durch die Wiesen und Wälder rings um Dovetail oder besuchte Harv unten in den Leasing-Parzellen.
Ihr schien es, als hätte sie durch ihr Fehlverhalten ihr Leben in Miss Mathesons Akademie zunichte gemacht. Bis vor kurzem war Miss Strickens Unterricht nichts weiter als ein routinemäßiges Ärgernis gewesen - eine Prüfung, die sie absitzen mußte, um in den Genuß des Unterrichts zu kommen, der ihr wirklich Spaß machte. Sie konnte sich an die Zeit vor erst zwei Monaten erinnern, als sie nach Hause kam, ihr Verstand in allem erstrahlte, was sie im Glanz-Unterricht gelernt hatte, und Frohsinn nur ein undeutlicher Schatten am Rande war. Aber in den vergangenen Wochen beherrschte Miss Stricken die Akademie aus unerfindlichen Gründen immer mehr. Und irgendwie hatte Miss Stricken Nells Gedanken gelesen und sich genau den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um ihre Kampagne zu starten. Sie hatte den Zeitpunkt der Ereignisse des heutigen Tages perfekt bestimmt. Sie hatte Nells innerste Empfindungen zutage gebracht wie ein Fleischermeister, der mit einem oder zwei gezielten Messerhieben die Eingeweide herausholt. Und nun war alles verdorben. Nun war Miss Mathesons Akademie verschwunden und zu Miss Strickens Haus der Schmerzen geworden, und Nell konnte dieses Haus nicht verlassen, ohne genau das zu tun, was sie ihren Freunden in der Fibel zufolge niemals tun durfte: aufgeben.
Nells Name wurde an eine Tafel vor dem Klassenzimmer geschrieben, über der in schweren Messingbuchstaben stand: S CHÜLERINNEN , DIE NACHSITZEN MÜSSEN . Wenige Tage später schon standen zwei weitere Namen unter ihrem: Fiona Hackworth und Elizabeth Finkle-McGraw. Daß Nell die furchteinflößende Miss Stricken entwaffnet hatte, war längst zum Gegenstand mündlich überlieferter Legenden geworden, und die trotzige Tat hatte ihre beiden Freundinnen derart beeindruckt, daß sie selbst alles Erdenkliche unternommen hatten, um sich in Schwierigkeiten zu bringen.
Nun waren die drei besten Schülerinnen von Miss Mathesons Akademie samt und sonders zum Nachsitzen verurteilt worden.
An jedem Samstag trafen Nell, Fiona und Elizabeth um sieben Uhr in der Schule ein, betraten das Klassenzimmer und setzten sich nebeneinander an Pulte in der ersten Reihe. Das war ein Teil von Miss Strickens teuflischem Plan. Ein nicht so versierter Folterknecht hätte die drei Mädchen so weit es ging auseinandergesetzt, um zu verhindern, daß sie miteinander redeten, aber Miss Stricken wollte sie direkt nebeneinander haben, damit sie eher in Versuchung gerieten, miteinander zu tuscheln oder Zettel hin und her zu schieben.
Niemals hielt sich eine Lehrerin in dem Klassenzimmer auf. Sie gingen davon aus, daß sie per Monitor überwacht wurden, aber mit Sicherheit wußten sie es nie. Wenn sie eintraten, hatte jede einen Stapel Bücher auf dem Pult liegen - alte, in benebenes Leder gebundene Bücher. Ihre Aufgabe bestand darin, die Bücher von Hand abzuschreiben und die Seiten fein säuberlich auf Miss Strickens Schreibtisch liegen zu lassen, bevor sie nach Hause gingen. Normalerweise handelte es sich bei den Büchern um Mitschriften von Oberhausdebatten des neunzehnten Jahrhunderts.
Als sie den siebten Samstag nachsitzen mußten, ließ Elizabeth Finkle-McGraw plötzlich den Federhalter fallen, schlug das Buch zu und warf es gegen die Wand.
Nell und Fiona konnten nicht anders, sie mußten lachen. Aber Elizabeth machte nicht den Eindruck, als wäre sie in einer besonders heiteren Stimmung. Das alte Buch lag kaum auf dem Boden, da lief Elizabeth hin und trat danach. Bei jedem Tritt entrang sich ihrer Kehle ein wütendes Grunzen. Das Buch erduldete die Brutalität stumm, was Elizabeths Wut nur noch anstachelte; sie ließ sich auf die Knie fallen, schlug den Einband auf und riß eine Handvoll Seiten nach der anderen heraus.
Nell und Fiona sahen einander plötzlich ernst an. Das Treten war komisch gewesen, aber daß Elizabeth die Seiten
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