Diamond Age - Die Grenzwelt
herausriß, beunruhigte beide zutiefst. »Elizabeth! Hör auf!« sagte Nell, aber Elizabeth schien sie nicht gehört zu haben. Nell lief zu Elizabeth und hielt sie von hinten fest. Fiona folgte einen Augenblick später und hob das Buch auf.
»Gottverdammt!« bellte Elizabeth. »Mir liegt nichts an diesen verdammten Büchern, und mir liegt auch nichts an der Fibel!«
Die Tür wurde aufgestoßen. Miss Stricken kam hereingestürmt, stieß Nell einfach beiseite, schlang beide Arme um Elizabeths Schultern und zerrte sie zur Tür hinaus.
Ein paar Tage später brach Elizabeth zu einem ausgedehnten Urlaub mit ihren Eltern auf; sie reisten mit dem privaten Luftschiff ihrer Familie von einer New-Atlantis-Klave zur nächsten, wobei sie den Pazifik und Nordamerika durchquerten und schließlich London selbst erreichten, wo sie sich mehrere Monate niederließen. In den ersten paar Tagen bekam Nell einen Brief von ihr und Fiona zwei. Danach erhielten sie keine Antwort mehr auf ihre Briefe und hörten schließlich auf zu schreiben. Elizabeths Name wurde von der Liste der Nachsitzenden entfernt.
Nell und Fiona machten weiter. Nell hatte einen Punkt erreicht, an dem sie die alten Bücher den ganzen Tag lang abschreiben konnte, ohne ein einziges Wort davon zu absorbieren. Während der ersten Woche des Nachsitzens hatte sie Angst gehabt; das Ausmaß ihrer Angst hatte sie selbst überrascht, und sie kam zu der Erkenntnis, daß Macht, auch wenn sie auf Gewalt verzichtete, ein ebenso beunruhigendes Schreckgespenst sein konnte wie alle, die sie in früheren Jahren kennengelernt hatte. Nach dem Zwischenfall mit Elizabeth langweilte sie sich viele Monate, danach wurde sie lange Zeit wütend, bis ihr in Gesprächen mit Ente und Purpur klarwurde, daß ihre Wut sie innerlich auffraß. Daher strengte sie sich gründlich an, sich wieder zu langweilen.
Der Grund für ihre Wut war der, daß es so eine unverzeihliche Zeitverschwendung war, diese alten Bücher abzuschreiben. Sie hätte unvorstellbar viel lernen können, hätte sie statt dessen die acht Stunden genutzt, um in der Fibel zu lesen. In dieser Hinsicht wäre auch der normale Unterricht in Miss Mathesons Akademie ausreichend gewesen. Das Irrationale der Situation quälte sie.
Als sie eines Tages von einem Ausflug zu den Toiletten zurückkehrte, stellte sie erschrocken fest, daß Fiona noch keine ganze Seite abgeschrieben hatte, obwohl sie schon seit Stunden hier waren.
Danach gewöhnte Nell es sich an, von Zeit zu Zeit einen Blick auf Fiona zu werfen. Sie stellte fest, daß Fiona immerzu schrieb, die alten Bücher aber unbeachtet liegen ließ. Jedesmal, wenn sie eine Seite fertig hatte, ließ sie sie in ihrem Strickbeutel verschwinden. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne und sah ein paar Minuten verträumt zum Fenster hinaus, dann machte sie weiter; oder sie legte beide Hände vor das Gesicht und wippte eine Weile stumm auf dem Stuhl hin und her, bis sie plötzlich hektisch weiterschrieb und mitunter mehrere Seiten in ebenso vielen Minuten füllte.
Am Spätnachmittag segelte Miss Stricken in das Klassenzimmer, nahm den Stapel der fertigen Seiten von Nells Pult, blätterte sie durch und ließ das Kinn einige Bogenminuten sinken. Diese fast unmerkliche Andeutung eines Nickens war ihre Art zu sagen, daß Nell für den Rest des Tages entlassen war. Nell hatte gelernt, daß Miss Stricken ihre Macht über die Mädchen unter anderem damit bewies, daß sie ihre Wünsche durch möglichst subtile Gesten kundtat, so daß ihre Schützlinge gezwungen waren, sie ununterbrochen genau zu beobachten.
Nell ging hinaus; aber als sie einige Schritte den Flur hinabgegangen war, drehte sie um, schlich zur Tür zurück und spähte durch das Fenster ins Klassenzimmer.
Miss Stricken hatte die beschriebenen Blätter aus Fionas Handtasche geholt, las sie durch und ging dabei im Zimmer auf und ab wie ein träge schwingendes Pendel, eine zermürbend langsame Bewegung. Fiona saß auf dem Stuhl, hatte den Kopf gesenkt und die Schultern schützend nach vorne gekrümmt.
Nachdem sie die Seiten eine oder zwei Ewigkeiten lang gelesen hatte, ließ Miss Stricken sie auf das Pult fallen und gab einen kurzen Kommentar ab, indem sie hoffnungslos und ungläubig den Kopf schüttelte. Dann machte sie kehrt und verließ den Raum.
Als Nell bei Fiona war, bebten die Schultern des Mädchens immer noch stumm. Nell legte die Arme um Fiona, die schließlich schluchzend Luft holte. In den nächsten paar Minuten steigerte sie sich in
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