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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hatte man sich darauf geeinigt, daß sie okay war, wenn nicht mit der DNS herumgespielt oder direkte Schnittstellen mit dem menschlichen Gehirn geschaffen wurden. Es gab keine Einwände dagegen, daß mit Hilfe der Nanotechnologie Gebäude herausgepreßt wurden, und das war ein Glück, denn Vatikan/Shanghai mußte jedes Jahr zwei neue Geschosse an das Free Phthisis Sanatorium anbauen. Inzwischen ragte es hoch über die anderen Gebäude am Ufer hinaus.
    Wie bei allen herausgepreßten Gebäuden, war auch bei diesem die Architektur höchst einfallslos; jedes Stockwerk sah gleich aus. Die Wände bestanden aus einem unauffälligen beigen Material, aus dem viele Gebäude in den LPs konstruiert worden waren - unglücklicherweise, zog es doch die ascheförmigen Kadaver toter Milben fast magnetisch an. Das Free Phthisis Sanatorium war, wie alle anderen Bauwerke aus demselben Material im Lauf der Jahre schwarz geworden, allerdings nicht gleichförmig, sondern mit vertikalen Regenspuren. Ein beliebter Scherz war, daß das Sanatorium außen genauso aussah wie die Lungen seiner Insassen. Die Fäuste der Rechtschaffenen Harmonie hatten sich jedoch größte Mühe gegeben, die Fassade zu verschönern, indem sie im Schutz der Nacht rote Plakate daran klebten.
    Harv lag in der obersten einer dreistöckigen Pritsche im zwanzigsten Stock, wo er sich mit einem Dutzend anderer Patienten, die an chronischem Asthma litten, ein kleines Zimmer und einen Vorrat gereinigter Luft teilte. Sein Gesicht war unter einer Phantaskopbrille verborgen, die Lippen schloß er um ein dickes Rohr, das zu einem Inhalator an der Wand führte. Dampfförmige Medikamente direkt aus dem MaterieCompiler wurden durch diese Röhre in seine Lungen befördert, wo sie verhinderten, daß sich seine Bronchien krampfartig schlossen.
    Nell zögerte einen Augenblick, bevor sie ihn aus seinem Raktiven riß. In manchen Wochen sah er besser aus als in anderen; in dieser sah er gar nicht gut aus. Sein Körper war aufgedunsen, sein Gesicht rund und feist, die Finger zu wäßrigen Zylindern geschwollen; sie hatten ihm eine schwere Anabolikabehandlung gegeben. Aber sie hätte auch gewußt, daß er eine schlimme Woche hinter sich hatte, weil Harv sich normalerweise nicht mit Immersionsraktiven abgab. Lieber mochte er diejenigen, die man auf einem Blatt SmartPapier auf den Schoß legen konnte. Nell versuchte, Harv jeden Tag einen Brief zu schreiben, den sie in einfachen Mediaglyphen verfaßte, und eine Zeitlanghatte er versucht, ebenso zu antworten. Letztes Jahr hatte er es aufgegeben, aber sie schrieb ihm nach wie vor gewissenhaft.
    »Nell!« sagte er, als er die Brille von den Augen genommen hatte. »Entschuldige, ich habe ein paar reiche Vickys gejagt.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja. Besser gesagt, Burly Scudd hat sie gejagt. In dem Raktiven. Weißt du, Burlys Schlampe wird schwanger und muß sich eine Freiheitsmaschine kaufen, um das Kind loszuwerden, und darum nimmt sie eine Stelle als Mädchen für alles bei ein paar hochnäsigen Vickys an und läßt ihre schicken alten Sachen mitgehen, weil sie denkt, daß sie so schneller an das Geld rankommt. Die Schlampe flieht, und sie jagen sie mit ihren Chevs, und dann kommt Burly Scudd mit seinem Riesentruck und dreht den Spieß um und jagt sie. Wenn man es richtig macht, kann man die Vickys in eine große Jauchegrubefallen lassen! Echt toll! Solltest es auch mal versuchen«, sagte Harv, dann griff er erschöpft nach seinem Sauerstoffschlauch und sog eine Weile daran.
    »Klingt spannend«, sagte Nell.
    Harv, der vorübergehend an dem Sauerstoffschlauch würgte, sah ihr ins Gesicht und schien nicht überzeugt zu sein. »Entschuldige«, stieß er zwischen Atemzügen hervor, »hab ganz vergessen, daß dir nichts an meiner Art von Raktiven liegt. Gibt es in deiner Fibel keinen Burly Scudd?«
    Nell zwang sich, über den Scherz zu lachen, den Harv jede Woche machte. Sie gab ihm den Korb mit frischem Obst und Keksen, den sie von Dovetail mitgebracht hatte, blieb eine Stunde bei ihm sitzen und unterhielt sich mit ihm über alles, worüber er sich gern unterhielt, bis sie feststellte, daß sein Blick immer wieder zu der Brille abschweifte. Dann verabschiedete sie sich bis zur nächsten Woche und gab ihm einen Abschiedskuß.
    Sie schaltete den Schleier auf höchste Undurchlässigkeit und ging zur Tür. Harv ergriff impulsiv seinen Sauerstoffschlauch und sog ein paarmal heftig daran, dann rief er ihren Namen, als sie gerade hinausgehen wollte.
    »Ja?«

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