Diamond Age - Die Grenzwelt
Wind übertönt, der von den Bergen herab durch die baufälligen Wände des alten Gasthofs heulte, und darum war die Maus völlig überrascht und von dem plötzlichen Licht geblendet. Nell stellte zu ihrer Überraschung fest, daß sich die Maus nicht über ihre Lebensmittelvorräte hergemacht hatte, wie man es von einer Maus erwarten durfte, sondern einige von Nells Unterlagen studierte. Auch handelte es sich nicht um die übliche zerstörerische Suche nach Material zum Nestbau - diese Maus konnte lesen und suchte nach Informationen.
Prinzessin Nell fing den Mäusespion unter ihren Händen. »Wonach suchst du? Sag es mir, und ich lasse dich frei!« sagte sie. Ihre Abenteuer hatten sie gelehrt, auf alle Arten von Listen vorbereitet zu sein, daher schien es wichtig, daß sie erfuhr, wer diesen winzigen, aber tüchtigen Spion geschickt hatte.
»Ich bin nur eine harmlose Maus!« piepste der Spion. »Ich will nicht einmal dein Essen – nur Informationen!«
»Ich gebe dir ein großes Stück Käse ganz für dich allein, wenn du mir ein paar Informationen gibst«, sagte Prinzessin Nell. Sie hielt die Maus am Schwanz fest und hob sie hoch in die Luft, damit sie von Angesicht zu Angesicht miteinander reden konnten. Derweil machte sie mit der anderen Hand die Kordel des Rucksacks auf und holte ein leckeres Stück blaugeäderten Stilton heraus.
»Wir suchen unsere verschwundene Königin«, sagte die Maus.
»Ich kann dir versichern, daß sich in meinen Unterlagen keine Informationen über eine vermißte Mäusemonarchin finden«, sagte Prinzessin Nell.
»Wie heißt du?« fragte die Maus.
»Das geht dich nichts an, Spion!« antwortete Prinzessin Nell. »Ich stelle hier die Fragen.«
»Aber es ist sehr wichtig, daß ich deinen Namen kenne«, sagte die Maus.
»Warum? Ich bin keine Maus. Und ich habe keine kleinen Mäuse mit Kronen auf den Köpfen gesehen.«
Der Mäusespion sagte nichts. Er betrachtete Prinzessin Nell sorgfältig mit seinen kleinen Knopfaugen. »Kommst du zufälligerweise von einer verwunschenen Insel?«
»Du hast zu viele Märchen gehört«, sagte Prinzessin Nell, die ihr Erstaunen kaum verbergen konnte. »Du bist alles andere als hilfreich gewesen und hast den Käse nicht verdient - aber ich bewundere deinen Mut und gebe dir trotzdem welchen. Guten Appetit!« Sie setzte die Maus auf den Boden und nahm ein Messer zur Hand, um etwas Käse abzuschneiden; aber als sie fertig war, war die Maus verschwunden. Nell konnte gerade noch sehen, wie ihre rosa Schwanzspitze unter der Tür verschwand.
Am nächsten Tag fand sie die Maus tot auf dem Boden im Flur. Die Katze des Schankwirts hatte sie erwischt...
Demnach existierte die Mäusearmee doch! Prinzessin Nell fragte sich, ob es ihnen je gelungen war, ihre verschwundene Königin zu finden. Sie folgte der Spur noch einen oder zwei Tage, da sie ungefähr in die richtige Richtung führte und fast so angenehm wie eine Straße war. Sie fand einige weitere Lagerstätten. An einer sah sie sogar ein kleines Grab mit einem winzigen Grabmal aus einem Stück Speckstein.
Die Inschrift dieses winzigen Monuments war viel zu klein, als daß man sie mit bloßem Auge hätte lesen können. Aber Prinzessin Nell hatte eine Lupe aus dem Schatz eines der Feenkönige bei sich, und die holte sie nun aus ihrer gepolsterten Schachtel und ihrem Samtbeutel und las die Inschrift damit.
Oben auf dem Grabstein fand sich das kleine Relief eines Mäuseritters in Rüstung, Schwert in einer Hand, der sich vor einem leeren Thron verbeugte. Die Inschrift lautete:
Hier ruht Kleeblatt, Schwanz und Speck, Er war 'ne tugendhafte Maus, Er fiel vom Sattel in den Dreck, Sein Gegner macht' ihm den Garaus. Ob ihn sein Ritt am letzten Tag Geführt in Himmel oder HÖH', Wo immer er verweilen mag, Sein Herz gehört Prinzessin Nell.
Prinzessin Nell untersuchte die Überreste der Lagerfeuer, die Oberfläche des Holzes, das die Mäusearmee gefällt hatte, und den Zustand ihres Kots und kam zu dem Ergebnis, daß die Armee vor vielen Wochen hier vorbeigezogen sein mußte. Eines Tages würde sie sie aufspüren und herausfinden, aus welchen Gründen sie sich ihr verbunden fühlten; im Augenblick aber mußte sie sich mit dringenderen Erwägungen beschäftigen.
Sie würde sich später um die Mäusearmee kümmern müssen. Heute war Samstag, und am Samstagvormittag machte sie immer einen Ausflug in die Leasing-Parzellen und besuchte ihren Bruder Harv. Sie öffnete den Kleiderschrank in der Ecke ihres
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