Diamond Age - Die Grenzwelt
schirmähnlicher Aerostats, die darauf programmiert waren, wenige Zentimeter vor Nells Gesicht in Schildformation zu fliegen. Die Schirme wiesen alle von ihr weg. Normalerweise waren sie aufgerollt, so daß man sie kaum sehen konnte; sie wirkten wie ein subtiler Schatten vor dem Gesicht, doch von der Seite gesehen, bewirkten sie ein schwaches Flimmern der Luft. Auf einen Befehl von Nell hin öffneten sie sich teilweise. Waren sie zur Gänze geöffnet, berührten sie einander fast. Die nach außen gekehrten Oberflächen waren verspiegelt, die inneren mattschwarz, so daß Nell wie durch ein Rauchglas hinausschauen konnte. Aber andere sahen nur den schimmernden Schleier. Man konnte die Schirme programmieren, daß sie in unterschiedlicher Weise schwebten – aber stets dieselbe gemeinsame Form beibehielten, wie eine Fechtmaske oder ein wallender Seidenschleier, ganz nach der jeweiligen Mode.
Der Schleier schützte Nell vor unwillkommener Musterung. Viele Karrierefrauen aus New Atlantis benutzten solche Schleier, um auf ihre Weise Kontakt mit der Welt zu halten und zu gewährleisten, daß man sie nach ihren Fähigkeiten und nicht nach ihrem Aussehen beurteilte. Darüber hinaus dienten sie als Schutz vor gefährlicher Sonneneinstrahlung und fingen viele verderbliche Nanositen ab, die andernfalls in Nase und Mund eindringen konnten.
An diesem Morgen interessierte Constable Moore besonders letztere Funktion. »In letzter Zeit ist es ziemlich schlimm«, sagte er. »Die Kampfhandlungen nehmen an Heftigkeit zu.« Das hatte Nell bereits aus gewissen Eigentümlichkeiten im Verhalten des Constable geschlossen: Er blieb bis spät in die Nacht hinein auf und verfolgte komplizierte Vorgänge auf seinem mediatronischen Fußboden, und sie vermutete, daß es etwas mit Frontverläufen oder gar mit einem Krieg zu tun hatte.
Als sie mit ihrem Chevalin durch Dovetail ritt, kam sie zu einer Anhöhe, die an klaren Tagen einen wunderbaren Ausblick über die Leasing-Parzellen, Pudong und Shanghai bot. Aber die Luftfeuchtigkeit war zu Wolkenbänken geronnen, die etwa dreihundert Meter tiefer eine undurchdringliche Schicht bildeten, so daß dieses Land auf der Hochebene von New Chusan eine Insel zu sein schien, das einzige Land auf der Welt, abgesehen von dem schneegekrönten Gipfel der Nippon-Klave ein paar Meilen entfernt an der Küste.
Sie passierte das Haupttor und ritt bergab. Sie näherte sich der Wolkenschicht, erreichte sie aber nie ganz; je tiefer sie kam, desto diffuser wurde das Licht, und nach ein paar Minuten konnte sie die geräumige Siedlung Dovetail nicht mehr sehen, wenn sie sich umdrehte, ebensowenig die Türme von St. Markus und Source Victoria darüber. Ein paar Minuten später wurde der Nebel so dicht, daß sie nur noch ein paar Meter weit sehen konnte, und sie roch den elementaren Duft des Meeres. Sie passierte die Stätte, wo sich einst die Sendero-Klave befunden hatte. Die Senderistas waren von den Protokollwahrern blutig bekämpft worden, als herauskam, daß sie mit den Rebellen von New Taiping gemeinsame Sache machten, einem fanatischen Kult, der sowohl gegen die Fäuste wie auch gegen die Küstenrepublik vorging. Das Grundstück war seitdem in den Besitz der Dong übergegangen, des Stamms einer ethnischen Minderheit aus dem Südwesten Chinas, die der Bürgerkrieg aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Sie hatten die hohe Mauer abgerissen und eine ihrer typischen vielgeschossigen Pagoden errichtet.
Davon abgesehen hatten sich die LPs kaum verändert. Die Betreiber der großen Wandmediatrone, die Nell bei ihrem ersten Ausflug in die Leasing-Parzellen so sehr erschreckt hatten, hatten die Helligkeit so weit wie möglich aufgedreht, um den Nebel zu kompensieren.
Unten an der Küste, nicht weit vom Aerodrom entfernt, hatten die Compiler von New Chusan als barmherzige Geste dem Vatikan etwas Platz eingeräumt. In den Anfangsjahren bestand er aus nicht mehr als einer zweistöckigen Mission für Thetes, die ihrem Lebensstil bis ans logische Ende gefolgt und heimatlos oder süchtig waren, von Gläubigern gehetzt wurden oder sich auf der Flucht vor dem Gesetz oder gewalttätigen Mitgliedern ihrer eigenen Familien befanden.
In letzter Zeit spielten diese Funktionen jedoch nur noch eine untergeordnete Rolle, und der Vatikan hatte das Fundament des Gebäudes so programmiert, daß noch viele weitere Stockwerke entstanden. Der Vatikan hatte eine große Zahl ernster ethischer Vorbehalte gegen die Nanotechnologie, aber schließlich
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