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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Zimmers und holte ihr Reisekleid heraus. Die Anstandsdame spürte ihre Absichten, kam sofort aus ihrer Nische an der Rückwand geflogen und schwebte summend über der Tür.
    Selbst in ihrem zarten Alter, erst seit wenigen Jahren geschlechtsreif, hatte Nell schon allen Grund, die Anwesenheit der summenden Anstandsdamenspore zu begrüßen, die ihr überallhin folgte, wenn sie allein das Haus verließ. Die Mannbarkeit hatte ihr jede Menge Merkmale verliehen, die die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts und von Frauen mit entsprechenden Neigungen auf sich zogen. Kommentatoren vergaßen selten, ihre Augen zu erwähnen, denen man ein exotisches Aussehen zuschrieb. Größe und Form hatten nichts Außergewöhnliches, und ihre Farbe – ein tweedähnliches Braungrün mit goldenen Flecken – stellte in einer vorwiegend angelsächsischen Kultur auch keine Besonderheit dar. Aber in Nells Augen lag ein Ausdruck wilder Wachsamkeit, der niemandem entging, der in ihre Nähe kam. Die neoviktorianische Gesellschaft brachte viele junge Frauen hervor, die, obschon gebildet und belesen, in Nells Alter noch ein unbeschriebenes Blatt waren. Nells Augen dagegen erzählten eine andere Geschichte. Als sie vor einigen Monaten in die Gesellschaft eingeführt worden war, zusammen mit einigen anderen auswärtigen Gastschülerinnen an Miss Mathesons Akademie, war sie nicht das hübscheste Mädchen im Ballsaal gewesen, und gewiß nicht das bestgekleidete oder gesellschaftlich prominenteste. Dennoch hatte sie eine ganze Schar junger Männer angezogen. Die jungen Männer gingen nicht so weit, offensichtlich um sie herumzuscharwenzeln; statt dessen bemühten sie sich, darauf zu achten, daß die Entfernung zwischen Nell und ihnen niemals unter einem gewissen Maximum blieb, so daß in jeder Ecke des Ballsaals, die sie aufsuchte, eine ungewöhnliche Dichte an jungen Männern herrschte.
    Im besonderen hatte sie die Aufmerksamkeit eines Jungen erregt, bei dem es sich um den Neffen eines Dividenden-Lords von Atlantis/Toronto handelte. Er hatte ihr einige glühende Liebesbriefe geschrieben. Sie hatte ihm geschrieben und mitgeteilt, daß sie die Beziehung nicht fortzusetzen wünsche, aber er hatte sie und ihre Anstandsdamenspore, möglicherweise mit Hilfe eines verborgenen Monitors, eines Morgens auf dem Weg zu Miss Mathesons Akademie aufgespürt. Sie wies ihn auf das kürzlich erfolgte Ende ihrer Beziehung hin, indem sie ihn überhaupt nicht beachtete, aber er blieb beharrlich, und als sie das Tor der Akademie erreichte, hatte die Anstandsdamenspore genügend Beweismaterial für eine offizielle Anklage wegen sexueller Belästigung gesammelt, sollte Nell sie erheben wollen.
    Selbstverständlich tat sie das nicht, weil das ein Aufsehen erregt hätte, das der Karriere des jungen Mannes abträglich gewesen wäre. Statt dessen schnitt sie fünf Sekunden aus der Cine-Aufzeichnung heraus: Nell, von dem jungen Mann bedrängt, sagte: »Tut mir leid, aber ich fürchte, Sie vergessen sich«, und der junge Mann, der den Verweis nicht zur Kenntnis nahm, bedrängte sie weiter, als hätte er sie nicht gehört. Diese Information überspielte Nell auf eine SmartBesucherkarte und ließ sie der Familie des jungen Mannes zustellen. Eine förmliche Entschuldigung ließ nicht lange auf sich warten, und sie hörte nie wieder von dem jungen Mann.
    Nachdem sie in die Gesellschaft eingeführt worden war, mußte sie ebenso ausgiebige Vorbereitungen für einen Besuch in den Leasing-Parzellen auf sich nehmen wie alle Ladys aus New Atlantis. Außerhalb von New Atlantis wurden sie und ihr Chevalin überall von einem Schirm schwebender Wachsporen umgeben, die als erste Verteidigungslinie des Selbstschutzes dienten. Das Chevalin einer modernen jungen Dame hatte einen Y-förmigen Körper, der es nicht erforderlich machte, im Damensattel zu reiten; aus diesem Grund konnte sie ein weitgehend normales Kleid tragen: ein Leibchen, das ihre schlanke Taille vorteilhaft betonte, die so gründlich mit den Fitneßgeräten der Akademie in Form gehalten wurde, daß es aussah, als wäre sie an einer Drehbank aus Walnußholz gedrechselt worden. Darüber hinaus verhinderten ihre Röcke, Ärmel, Kragen und Hut, daß die halbstarken Grobiane der Leasing-Parzellen ihre Körpersphäre mit den Augen verletzen konnten, und damit sich ihr eindrucksvolles Gesicht nicht als zu große Versuchung erwies, trug sie außerdem einen Schleier.
    Bei dem Schleier handelte es sich um ein Feld mikroskopischer,

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