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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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willst, wenn du diese Akademie verläßt, was nicht mehr fern ist, und in die Welt hinausgehst.«
    »Selbstverständlich werde ich den Eid ablegen, sobald ich das vorgeschriebene Alter erreicht habe. Ich glaube, ich möchte die Kunst des Programmierens erlernen, und wie Raktive gemacht werden. Wenn ich Untertanin Ihrer Majestät geworden bin, möchte ich selbstverständlich eines Tages einen netten Mann kennenlernen und möglicherweise Kinder haben –«
    »Ach, hör auf«, sagte Miss Matheson. »Du bist eine junge Frau - selbstverständlich denkst du darüber nach, ob du Kinder bekommen sollst - wie jede junge Frau. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Nell, und wir müssen außer acht lassen, was dich wie alle anderen Mädchen macht, und uns darauf konzentrieren, was dich von ihnen unterscheidet.«
    An dieser Stelle ergriff die alte Dame Nells Hand mit überraschender Kraft und hob den Kopf ein Stück über das Kissen. Die beachtlichen Runzeln und Falten auf ihrer Stirn wurden noch tiefer, und ihre umwölkten Augen nahmen einen stechenden, durchdringenden Ausdruck an. »Dein Schicksal ist in gewisser Weise außergewöhnlich, Nell. Das weiß ich seit dem Tag, als Lord Finkle-McGraw zu mir gekommen ist und mich gebeten hat, dich - ein abgerissenes kleines Thete-Mädchen - in meine Akademie aufzunehmen.
    Du kannst versuchen, dich wie wir zu benehmen - wir haben versucht, eine von uns aus dir zu machen -, du kannst auch in Zukunft so tun, wenn du willst, und du könntest sogar den Eid ablegen - aber es wäre alles eine Lüge. Du bist anders.«
    Diese Worte hatten auf Nell die Wirkung eines plötzlichen kalten Bergwindes und wehten die einschläfernde Wolke der Sentimentalität fort. Nun stand sie bloßgestellt und völlig verwundbar da. Aber es war nicht unangenehm.
    »Wollen Sie damit sagen, daß ich dem Busen des Adoptivstammes, der mich genährt hat, den Rücken kehren soll?«
    »Ich will damit sagen, daß du zu den seltenen Menschen gehörst, die Stammesgrenzen überwinden, und einen Busen brauchst du ganz gewiß nicht mehr«, sagte Miss Matheson. »Mit der Zeit wirst du herausfinden, daß dieser Stamm so gut wie jeder andere ist – eigentlich sogar besser als die meisten.« Miss Matheson atmete tief durch und schien in ihren Decken zu versinken. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Gib mir einen Kuß, Mädchen, und dann geh deines Weges.«
    Nell beugte sich nach vorne und preßte die Lippen auf Miss Mathesons Wange, die ledrig aussah, sich aber überraschend weich anfühlte. Dann drehte sie, da sie die alte Dame nicht verlassen wollte, unvermittelt den Kopf und ließ ihn ein paar Augenblicke auf Miss Mathesons Brust ruhen. Miss Matheson strich ihr matt über das Haar und machte »Tss, tss«.
    »Leben Sie wohl, Miss Matheson«, sagte Nell. »Ich werde Sie nie vergessen.«
    »Ich dich ebensowenig«, flüsterte Miss Matheson, »obwohl das zugegeben nicht viel heißt.«
     
    Ein ausgesprochen großes Chevalin stand vor Constable Moores Haus, in Größe und Form irgendwo zwischen einem Percheron und einem kleinen Elefanten angesiedelt. Es war das schmutzigste Ding, das Nell je in ihrem Leben gesehen hatte - allein seine Verkrustungen mußten Hunderte Pfund wiegen und rochen nach dem Gestank von nächtlicher Erde und Brackwasser. Das Bruchstück eines Maulbeerzweigs, an dem noch Blätter und sogar einige Beeren hingen, hatte sich in einem beweglichen Gelenk zwischen zwei nebeneinanderliegenden Panzerplatten eingeklemmt, und lange Schafgarbenstränge schleiften an seinen Knöcheln.
    Der Constable saß in einer gleichermaßen schmutzigen und verschrammten Hoplitrüstung, die doppelt so groß war wie er, wodurch sein bloßer Kopf absurd klein wirkte, mitten in seinem Bambushain. Er hatte den Helm abgezogen und in den Fischteich geworfen, wo er dahindümpelte wie die runzlige Hülle eines luftleeren Schlauchboots. Der Constable wirkte ausgesprochen erschöpft und betrachtete mit leerem Blick den Kudzu, der langsam, aber sicher die Glyzinie überwucherte. Kaum sah Nell seinen Gesichtsausdruck, kochte sie etwas Tee und brachte ihn hinaus zu ihm. Der Constable nahm die winzige Teetasse aus Alabaster mit gepanzerten Händen, die Stein wie altbackene Brotlaibe hätten zerquetschen können. Die massiven Gewehrläufe der in die Arme des Anzugs eingebauten Waffen wiesen an den Innenseiten Schmauchspuren auf. Er nahm Nell die Tasse mit der Präzision eines chirurgischen Roboters aus der Hand, führte sie aber nicht zum Mund, weil er

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