Diamond Age - Die Grenzwelt
Kind gewesen war, und deshalb kam sie am nächsten Morgen zu spät zur Kirche. Sie sprachen ein spezielles Gebet für Miss Matheson, die zu Hause und angeblich bei schlechter Gesundheit war. Nell besuchte sie nach dem Gottesdienst ein paar Minuten, dann ging sie sofort nach Hause und versenkte sich wieder in die Fibel.
Sie mußte zwei Probleme gleichzeitig lösen. Erstens mußte sie herausbekommen, wie das Türschloß funktionierte. Zweitens mußte sie herausfinden, ob die Person, die ihr Botschaften schickte, ein Mensch oder eine Maschine war. Wenn sie zweifelsfrei bestimmt hatte, daß es sich um einen Menschen handelte, konnte sie ihn um Mithilfe beim Öffnen des Schlosses bitten, aber bis dieses Rätsel gelöst war, mußte sie ihre Aktivitäten geheimhalten.
Sie konnte nur wenige Teile des Schlosses sehen: die Kurbel, den Bolzen, zwei Messingscheiben an der Oberseite mit eingeprägten Ziffern von 0 bis 9, so daß man durch Drehen in unterschiedliche Richtungen alle ganzen Zahlen zwischen 00 und 99 darstellen konnte. Diese Scheiben waren jedesmal, wenn die Kurbel sich drehte, in fast konstanter Bewegung.
Nell war es gelungen, mehrere Meter von der Kette zu lösen, die sie zur Kommunikation mit dem Herzog verwendete, daher gelang es ihr, verschiedene Botschaften in das Schloß einzugeben und zu beobachten, wie das Ergebnis aussah.
Die oberste Zahl veränderte sich mit jedem Kettenglied, das in die Maschine eingeführt wurde, und schien, in begrenztem Maße, zu bestimmen, was die Maschine als nächstes tat; zum Beispiel fand Nell heraus, wenn es sich um die Zahl 09 handelte und das nächste Glied der Kette sich in der vertikalen Position befand (was der Herzog als eins bezeichnete), dann drehten sich die Scheiben und bildeten die Zahl 23. Aber war das nächste Glied statt dessen eine Null (wie der Herzog Glieder mit horizontalem Gelenk bezeichnete), veränderte sich die Zahl der Scheiben zu 03. Aber das war noch nicht alles: In diesem Fall kehrte die Maschine aus einem unerfindlichen Grund die Bewegung der Kette durch die Maschine um und kippte das Gelenk von null auf eins. Das bedeutete, die Maschine konnte die Kette nicht nur lesen, sondern auch damit schreiben.
Aus beiläufigem Plaudern mit dem Herzog erfuhr sie, daß man die Zahlen der Scheiben als Zustände bezeichnete. Zuerst wußte sie nicht, welche Zustände zu anderen Zuständen führten, daher wechselte sie ziellos von einem Zustand zum nächsten und notierte sich die Verbindungen auf einem Schmierblatt. Dieses wuchs bald schon zu einer Tabelle mit zweiunddreißig verschiedenen Zuständen und wie das Schloß auf null oder eins reagierte, wenn es sich in dem betreffenden Zustand befand. Nell brauchte eine Weile, bis sie die Lücken in der Tabelle geschlossen hatte, weil manche der Zustände nur schwer zu erreichen waren – man bekam sie nur, wenn man die Maschine dazu brachte, eine Bestimmte Abfolge von Einsen und Nullen auf der Kette zu schreiben.
Ohne den Herzog, der offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als ihr andauernd Botschaften zu schicken, wäre sie vor lauter Nullen und Einsen verrückt geworden. Diese beiden parallelen Beschäftigungen beanspruchten in den folgenden zwei Wochen den größten Teil von Nells Freizeit, und sie machte langsam, aber beharrlich Fortschritte.
»Du mußt lernen, wie du das Schloß an deiner Tür bedienen kannst«, sagte der Herzog. »Das wird dir ermöglichen, die Flucht zu ergreifen und mich zu retten. Ich werde dir Anweisungen geben.«
Er wollte sich jedoch nur über Technologie unterhalten, was Nell nicht half herauszukriegen, ob er ein Mensch oder eine Maschine war. »Warum knackst du nicht dein eigenes Schloß«, antwortete sie, »und kommst mich retten? Ich bin ein armes, hilfloses Ding und ganz allein auf der Welt, so ängstlich und einsam, und du scheinst so tapfer und heldenhaft zu sein; deine Geschichte ist ziemlich romantisch, und ich kann nicht erwarten, wie es weitergeht, nachdem unser beider Schicksale nun verknüpft sind.«
»Die Maschinen haben ein spezielles Schloß an meiner Tür angebracht, keine Turing-Maschine«, antwortete der Herzog.
»Beschreibe dich mir«, schrieb Nell.
»Nichts Besonderes, fürchte ich«, schrieb der Herzog. »Wie ist es mit dir?«
»Etwas größer als der Durchschnitt, leuchtende grüne Augen, rabenschwarzes Haar, das mir bis zur Taille reicht, wenn ich es nicht hochstecke, um meine hohen Wangenknochen und vollen Lippen zu betonen. Schmale Taille, kleine Brüste,
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