Diamond Age - Die Grenzwelt
befürchtete, er könnte in seiner Erschöpfung die Entfernung falsch einschätzen und das Porzellan versehentlich an seinem Kinn zerschmettern oder sich sogar enthaupten. Allein schon, daß er die Tasse hielt und den Dampf beobachtete, der von der Oberfläche emporstieg, schien ihn zu beruhigen. Er blähte einmal die Nasenflügel, dann noch einmal. »Darjeeling«, sagte er. »Eine gute Wahl. Ich habe Indien stets für ein zivilisierteres Land als China gehalten. Ich werde den ganzen Oolong, den Keemun, den Lun jang und den Lapsang souchong rauswerfen müssen. Zeit, auf Ceylon, Pekoe, Assam umzusteigen.« Er kicherte.
Weiße Spuren getrockneten Salzes verliefen von den Augenwinkeln des Constable bis zu seinem Haaransatz, wo sie verschwanden. Er war ohne Helm in halsbrecherischem Tempo geritten. Nell wünschte sich, sie hätte sehen können, wie der Constable auf seinem Kriegschevalin durch China donnerte.
»Ich bin zum letztenmal in den Ruhestand gegangen«, erklärte er. Er nickte in Richtung von China. »Habe ein bißchen Berater für einen Gentleman dort gespielt. Komplizierter Bursche. Jetzt ist er tot. Facettenreiche Persönlichkeit, aber jetzt wird er als einer von vielen chinesischen Kriegsherren in die Geschichte eingehen, die es nicht geschafft haben. Es ist erstaunlich, Liebes«, sagte er und sah Nell zum erstenmal an, »wieviel Geld man damit verdienen kann, daß man die Flut zurückschaufelt. Am Ende muß man aussteigen, solange es sich noch rentiert. Nicht besonders ehrenhaft, nehme ich an, aber unter Beratern gibt es auch keine Ehre.«
Nell konnte sich nicht vorstellen, daß Constable Moore hinsichtlich der jüngsten Ereignisse ins Detail gehen wollte, daher wechselte sie das Thema. »Ich glaube, ich bin endlich dahintergekommen, was Sie mir vor Jahren sagen wollten, über die Notwendigkeit, intelligent zu sein«, sagte sie.
Auf einmal strahlte der Constable. »Freut mich, das zu hören.«
»Die Vickys haben einen komplizierten Moral- und Verhaltenskodex. Er entstand aufgrund der moralischen Verkommenheit einer früheren Generation, genau wie den ursprünglichen Viktorianern die Georgianer und die Regentschaft vorausgegangen sind. Die alte Garde glaubt an diesen Kodex, weil sie durch Schaden klug geworden sind. Sie erziehen ihre Kinder dazu, den Kodex zu respektieren – aber ihre Kinder glauben aus gänzlich anderen Gründen daran.«
»Sie glauben daran«, sagte der Constable, »weil man sie indoktriniert hat, daran zu glauben.«
»Ja. Einige stellen ihn niemals in Frage - sie wachsen zu kleingeistigen Menschen heran, die sagen können, was sie glauben, aber nicht, warum. Andere desillusioniert die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, und sie rebellieren - wie Elizabeth Finkle-McGraw.«
»Für welchen Weg entscheidest du dich, Nell?« fragte der Constable, der sich außerordentlich interessiert anhörte. »Konformismus oder Rebellion?«
»Weder noch. Beide sind ein wenig schlicht - sie sind nur für Menschen, die nicht mit Widersprüchen und Zweideutigkeit fertig werden.«
»Ah! Ausgezeichnet!« rief der Constable aus. Zur Betonung schlug er mit der freien Hand auf den Boden, so daß Funken flogen und die Schockwelle sich durch den Boden bis in Nells Füße fortpflanzte.
»Ich vermute, daß Lord Finkle-McGraw, ein intelligenter Mann, die Scheinheiligkeit seiner Gesellschaft durchschaut, ihre Prinzipien aber dennoch hochhält, weil das auf lange Sicht am besten ist. Und ich vermute, er hat sich Gedanken darüber gemacht, wie er diesen Standpunkt am besten jungen Menschen begreiflich machen kann, die, im Gegensatz zu ihm, die historischen Voraussetzungen nicht verstehen – was erklären könnte, weshalb er sich für mich interessiert. Die Fibel mag anfangs Finkle-McGraws Einfall gewesen sein – ein erster Versuch, die Sache systematisch anzugehen.«
»Der Herzog läßt sich nicht in die Karten schauen«, sagte Constable Moore, »daher kann ich nicht sagen, ob deine Mutmaßungen zutreffen. Aber ich muß zugeben, daß alles gut zusammenpaßt.«
»Was hast du jetzt vor, nachdem du dir das alles zusammengereimt hast? Noch ein paar Jahre Ausbildung und Polieren werden dich in eine Position bringen, wo du den Eid ablegen kannst.«
»Selbstverständlich ist mir bewußt, daß ich beste Aussichten in der Phyle der Atlanter hätte«, sagte Nell, »aber ich denke, es wäre nicht passend für mich, daß ich den geraden und schmalen Weg nehme. Ich werde nach China gehen, um mein Glück zu
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