Diamond Age - Die Grenzwelt
des Schlosses fand Prinzessin Nell ein Skelett auf einem Stuhl, das zusammengesunken an einem Tisch voller Bücherstapel saß. Mäuse, Insekten und Vögel hatten das ganze Fleisch von den Knochen genagt, aber Spuren von grauen Kopf- und Barthaaren lagen noch auf dem Tisch verstreut, und um den obersten Halswirbel hing eine goldene Kette mit einem Siegel, das den Buchstaben T trug.
Sie verbrachte einige Zeit damit, die Unterlagen des Herzogs durchzusehen. Überwiegend handelte es sich um Notizbücher, wo er Erfindungen skizziert hatte, zu denen er noch nicht gekommen war. Er hatte Pläne für ganze Armeen von Turing-Maschinen, die parallel laufen sollten, und für Ketten mit Gelenken, die man in mehr als zwei Positionen einrasten lassen konnte; und für Maschinen, die auf zweidimensionalen Kettenbriefen schrieben statt eindimensionalen Ketten, und für ein dreidimensionales Turing-Gitter mit einer Seitenlänge von einer Meile, durch das eine mobile Tuoring-Maschine klettern und dabei Rechenvorgänge durchführen sollte.
So kompliziert seine Entwürfe auch wurden, der Herzog fand immer einen Weg, ihr Verhalten zu simulieren, indem er eine hinreichend lange Kette in eine der traditionellen Turing-Maschinen einführte. Das soll heißen, daß die parallelen und mehrdimensionalen Maschinen schneller als die ursprünglichen Modelle arbeiteten, im Grunde genommen aber nichts anderes taten.
Eines Nachmittags saß Nell auf ihrer Lieblingswiese und las über das alles in der Fibel, als ein reiterloses Chevalin aus dem Wald kam und direkt auf sie zugaloppierte. Das war an und für sich nichts höchst Ungewöhnliches; Chevalins waren schlau genug, daß man sie auf die Suche nach bestimmten Personen schicken konnte. Aber sie wurden selten auf die Suche nach Nell geschickt.
Das Chevalin raste in gestrecktem Galopp auf sie zu, bis es nur noch wenige Schritte entfernt stand, dann stemmte es die Hufe in den Boden und kam sofort zum Stillstand – ein Trick, den es problemlos durchführen konnte, wenn es keinen Menschen trug. Es brachte eine Nachricht in Miss Strickens Handschrift: »Nell, bitte komm sofort. Miss Matheson wünscht, dich zu sehen, und es ist nicht mehr viel Zeit.«
Nell zögerte nicht. Sie sammelte ihre Sachen ein, verstaute sie in dem kleinen Kofferraum des Reittiers und stieg auf. »Los!« sagte sie. Dann machte sie es sich bequem und hielt sich an beiden Handgriffen fest. »Keine Geschwindigkeitsbegrenzung.« Binnen weniger Augenblicke preschte das Chevalin mit der Schnelligkeit eines Geparden zwischen den Bäumen hindurch und arbeitete sich bergauf Richtung Hundegitter.
Aus der Anordnung der Röhren schloß Nell, daß Miss Matheson auf drei verschiedene Arten mit dem Feeder verbunden war, auch wenn man alles diskret unter vielen Decken verborgen hatte, die sich auf ihrem Körper türmten wie die luftigen Schichten eines französischen Blätterteiggebäcks. Nur ihr Gesicht und ihre Hände waren zu sehen, und als sie die sah, dachte Nell zum erstenmal, seit sie einander vorgestellt worden waren, daran, wie alt Miss Matheson war. Die Kraft ihrer Persönlichkeit hatte Nell wie alle Mädchen über ihr wahres Alter hinweggetäuscht.
»Bitte, lassen Sie uns allein, Miss Stricken«, sagte Miss Matheson, worauf sich Miss Stricken argwöhnisch entfernte und mit widerwilligen und vorwurfsvollen Blicken nicht geizte.
Nell setzte sich auf die Bettkante und hob behutsam eine von Miss Mathesons Händen von der Decke, als wäre sie das getrocknete Blatt eines seltenen Baums. »Nell«, sagte Miss Matheson. »Vergeude die wenigen Augenblicke, die mir noch bleiben, nicht mit Artigkeiten.«
»Oh, Miss Matheson -« begann Nell, aber die alte Dame riß die Augen auf und brachte Nell mit einem gewissen, in vielen Jahrzehnten im Klassenzimmer geübten Blick zum Schweigen, der seine Macht noch nicht eingebüßt hatte.
»Ich habe gebeten, daß man dich zu mir ruft, weil du meine Lieblingsschülerin bist. Nein! Sag kein Wort«, wies Miss Matheson sie zurecht, als Nell sich dichter über sie beugte und Tränen ihr in die Augen traten. »Lehrer sollen keine Lieblingsschüler haben, aber der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, da ich alle meine Sünden beichten muß, also heraus damit.
Ich weiß, du hast ein Geheimnis, Nell, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was für eines, und ich weiß, dieses Geheimnis unterscheidet dich von allen anderen Mädchen, die ich jemals unterrichtet habe. Ich frage mich, was du mit deinem Leben anfangen
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