Diamond Age - Die Grenzwelt
Ihnen versichern, daß meine Motive durchaus anständiger Natur sind.«
Carl setzte eine gekränkte Miene auf. »Euer Gnaden! Ich hätte niemals etwas anderes vermutet! Ich habe diese Rolle nicht übernommen, um die junge Dame vor möglichen böswilligen Übergriffen zu schützen, sondern weil ihre derzeitige Lage es zu einer recht schwierigen Angelegenheit macht, mit ihr Verbindung aufzunehmen.«
»Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie über die junge Dame wissen.«
Carl schilderte dem Lord mit knappen Worten Mirandas Beziehung zu der Fibel.
Finkle-McGraw interessierte sich sehr dafür, wieviel Zeit Miranda jede Woche in der Fibel verbracht hatte. »Wenn Ihre Schätzungen zutreffend sind, muß diese Frau im Alleingang mindestens neun Zehntel des Ragierens für dieses Exemplar der Fibel übernommen haben.«
»Dieses
Exemplar? Wollen Sie damit sagen, es gab noch andere?«
Finkle-McGraw ging ein paar Augenblicke schweigend weiter, dann fuhr er mit leiserer Stimme fort. »Es waren alles in allem drei Exemplare. Das erste bekam meine Enkelin – Sie sind sich sicher darüber im klaren, daß ich Ihnen dies streng im Vertrauen erzähle. Das zweite ging an Fiona, die Tochter des Artifex, der die Fibel geschaffen hat. Die dritte fiel Nell in die Hände, einem kleinen Thete-Mädchen.
Lange Rede, kurzer Sinn, die drei Mädchen haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Elizabeth ist rebellisch und trotzig und hat das Interesse an der Fibel schon vor Jahren verloren. Fiona ist klug, aber deprimiert, eine klassische manisch-depressive Künstlerin. Nell dagegen ist eine äußerst vielversprechende junge Dame.
Ich habe eine Analyse der Anwendungsgewohnheiten der Mädchen vorbeitet, die von der inhärenten Geheimniskrämerei des Mediensystems behindert wurde, sich aber anhand der Rechnungen ablesen läßt, die wir den Rakteuren bezahlten. Es wurde deutlich, daß im Falle Elizabeth Hunderte verschiedene Darsteller beteiligt waren. In Eionas Fall fielen die Rechnungen überraschend niedrig aus, weil größtenteils jemand ragierte, der kein Geld dafür verlangte – wahrscheinlich ihr Vater. Aber das ist eine andere Geschichte. In Nells Fall handelte es sich überwiegend um eine einzige Person.«
»Das hört sich so an«, sagte Carl, »als hätte meine Freundin eine Beziehung zu Nells Exemplar entwickelt –«
»Und damit zu Nell«, sagte Lord Finkle-McGraw.
Carl sagte: »Dürfte ich fragen, aus welchem Grund Sie mit der Raktrice Verbindung aufnehmen wollen?«
»Weil sie eine entscheidende Rolle bei dem spielt, was hier vor sich geht«, sagte Lord Finkle-McGraw, »womit ich nicht gerechnet hatte. Es gehört nicht zum ursprünglichen Plan, daß ein Raktcur Bedeutung gewinnen würde.«
»Sie hat es geschafft«, sagte Carl Hollywood, »indem sie ihre Karriere und den größten Teil ihres Lebens geopfert hat. Sie müssen unbedingt begreifen, Euer Gnaden, daß sie nicht nur Nells Lehrerin war. Sie wurde Nells Mutter.«
Diese Worte schienen Lord Finkle-McGraw tief zu berühren. Er schlenderte eine Zeitlang nachdenklich am Ufer entlang.
»Sie haben mir vor einigen Minuten zu verstehen gegeben, daß es keine Kleinigkeit wäre, mit der Raktrice Verbindung aufzunehmen«, sagte er schließlich mit leiser Stimme. »Gehört sie nicht mehr Ihrem Ensemble an?«
»Sie hat sich vor einigen Jahren beurlauben lassen, damit sie sich ganz auf Nell und die Fibel konzentrieren konnte.«
»Ich verstehe«, sagte der Dividenden-Lord und betonte die Worte ein wenig, wie einen Ausruf. Seine Erregung wuchs. »Mr. Hollywood, ich hoffe Sie nehmen mir meine Neugier nicht übel, wenn ich Sie frage, ob es sich um einen
bezahlten
Urlaub handelt?« »Wäre es erforderlich gewesen, hätte ich zugestimmt. Aber es gab einen anderen Geldgeber.«
»Einen anderen Geldgeber«, wiederholte Finkle-McGraw. Er war eindeutig fasziniert und ein wenig beunruhigt, daß in diesem Zusammenhang das Vokabular der Finanzwelt verwendet wurde. »Die Transaktion war vergleichsweise einfach, wie es vermutlich alle Transaktionen
au fand
sind«, sagte Carl Hollywood. »Miranda wollte Nell ausfindig machen. Der gesunde Menschenverstand legte nahe, daß das unmöglich ist. Allerdings gibt es einige unkonventionelle Denker, die der Ansicht sind, daß man es durch unbewußte, nichtrationale Prozesse bewerkstelligen kann. Es gibt einen Stamm, der sich die Trommler nennt und der normalerweise unter Wasser lebt -«
»Ist mir bekannt«, sagte Lord Finkle-McGraw. »Miranda hat sich
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