Diamond Age - Die Grenzwelt
sich die Adressen von denen mit ganz neuen oder besonders edel aufgemachten Reklametafeln ein.
Bisher hatte sie noch keinen eindeutigen Plan. Sie wußte nur, daß sie sich zielstrebig voranbewegen mußte. Dann würden die jungen Männer, die am Straßenrand saßen und in ihre Handys sprachen, sie zwar angaffen, aber in Ruhe lassen. Wenn sie anhielt oder auch nur im geringsten unsicher aussah, würden sie sich auf sie stürzen.
Die schwüle, feuchte Luft am Huang Pu trug Millionen Tonnen Luftbojen, und Nell konnte spüren, wie jedes Kilogramm von deren Gewicht auf ihre Rippen und Schultern drückte, als sie die Hauptverkehrsader am Ufer hinauf und hinab fuhr, um immer in Bewegung zu bleiben und den falschen Eindruck von Zielstrebigkeit zu erwecken. Dies war die Küstenrepublik, wo es keinerlei anerkannte Regeln zu geben schien, davon abgesehen, daß Geld die Welt regierte und es gut war, reich zu werden. Jeder Stamm auf der Erde schien hier seinen eigenen Wolkenkratzer zu haben. Manche, wie New Atlantis, rekrutierten nicht aktiv, sondern verließen sich auf Größe und Pracht ihrer Gebäude als Monument ihrer selbst. Andere, wie zum Beispiel die Buren, die Parsis, die Juden, entschieden sich für die Taktik des Understatement, und in Pudong war alles Understatement mehr oder weniger unsichtbar. Wieder andere -die Mormonen, die Erste Verzettelte Republik und die chinesische Küstenrepublik selbst - nutzten jeden Quadratzentimeter ihrer Mediatronwände für die Anwerbung.
Die einzige Phyle, die den ökumenischen Geist, welcher den Ort durchwehte, nicht zu würdigen schien, war das Himmlische Königreich selbst. Nell geriet zufällig in ihre Parzelle, die Hälfte eines quadratischen Blocks, von einer hohen, stuckverzierten Mauer mit kreisrunden Öffnungen dann und wann umgeben und einem dreistöckigen Gebäude im Inneren, das ganz im Ming-Stil der Blütezeit gehalten war, mit Zinnen, die an den Ecken nach oben gebogen waren, und modellierten Drachen auf den Dachfirsten. Verglichen mit dem Rest von Pudong, wirkte die ganze Anlage so winzig, daß man darüber hätte stolpern können. Die Tore wurden von Männern in Rüstungen bewacht, die wahrscheinlich darüber hinaus von anderen, nicht so auffälligen Verteidigungssystemen unterstützt wurden.
Nell war ziemlich sicher, daß ihr mindestens drei junge Männer unauffällig folgten, die sich an ihre Fersen geheftet hatten, als sie das erstemal von der Küste hier vorbeigekommen war, und herausfinden wollten, ob sie tatsächlich ein Ziel hatte oder nur so tat. Sie hatte den Weg von einem Ufer zum anderen schon einmal vollständig zurückgelegt und dabei so getan, als wäre sie eine Touristin, die nur die Aussicht auf den Bund am anderen Ufer genießen wollte. Nun machte sie sich auf den Rückweg ins Herz der Innenstadt von Pudong, wo sie besser den Eindruck erwecken sollte, als würde sie etwas tun.
Als sie am luxuriösen Eingang eines Wolkenkratzers vorbeikam – ein Gebäude der Küstenrepublik, kein Grund und Boden der Barbaren – erkannte sie in dem Mediaglyphenlogo eines der Schilder wieder, die sie auf dem Weg in die Stadt gesehen hatte.
Nell konnte wenigstens eine Bewerbung ausfüllen, ohne gleich eine Verpflichtung einzugehen. Das würde ihr ermöglichen, eine Stunde in relativ sicherer und sauberer Umgebung totzuschlagen. Es kam darauf an, wie Dojo ihr vor langer Zeit in einem anderen Zusammenhang erklärt hatte, niemals stillzustehen; ohne Bewegung konnte sie nichts ausrichten.
Leider war die Bürosuite von Madame Ping geschlossen. Im hinteren Bereich brannten ein paar Lichter, aber die Türen waren abgeschlossen, der Empfang nicht besetzt. Nell wußte nicht, ob sie verärgert oder amüsiert sein sollte; wer hatte je von einem Bordell gehört, das nach Einbruch der Dunkelheit schloß? Aber schließlich waren dies hier nur die Büros der Verwaltung.
Sie lungerte ein paar Minuten in der Halle herum, dann erwischte sie einen Fahrstuhl nach unten. Als die Tür sich gerade schloß, sprang jemand in die Halle, drückte auf den Kopf und öffnete sie wieder. Ein junger Chinese mit einem zierlichen, schlanken Körper und großem Kopf, ordentlich gekleidet, mit einigen Papieren unter dem Arm. »Pardon«, sagte er. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Ich bin hier, um mich um einen Job zu bewerben«, sagte Nell.
Der Blick des Mannes wanderte kühl und professionell abschätzend über ihre Gestalt, fast ohne eine Spur von Lüsternheit, Start und Ziel beim Gesicht.
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