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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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»Als Darstellerin«, sagte er. Sein Tonfall lag irgendwo zwischen einer Frage und einer Feststellung.
    »Als Drehbuchautorin«, sagte sie.
    Darauf grinste er unerwartet.
    »Ich besitze Qualifikationen, die ich in allen Einzelheiten darlegen kann.«
    »Wir haben Autoren. Wir nehmen sie aus dem Netz unter Vertrag.«
    »Das überrascht mich. Wie, um alles in der Welt, kann ein Lohnschreiber in Minnesota Ihre Kunden mit dem persönlichen Service versorgen, den sie erwarten?«
    »Sie können mit ziemlicher Sicherheit einen Job als Darstellerin bekommen«, sagte der junge Mann. »Sie könnten heute nacht noch anfangen. Gute Bezahlung.«
    »Auf dem Weg hierher hab ich schon an den Reklametafeln gesehen, daß ihre Kunden nicht für Körper bezahlen. Sie bezahlen für Einfälle. Das ist der Bonus Ihres Hauses, richtig?«
    »Pardon?« sagte der junge Mann und grinste wieder.
    »Ihr Bonus. Daß Sie mehr als ein gewöhnliches Hurenhaus verlangen können – bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise –, liegt daran, daß Sie ein auf die Phantasien Ihrer Kunden maßgeschneidertes Drehbuch anbieten können. Das kann ich für Sie tun«, sagte Nell. »Ich kenne diese Leute, und mit meiner Hilfe können Sie eine Menge Geld verdienen.«
    »Sie kennen welche Leute?«
    »Die Vickys. Ich kenne sie in- und auswendig«, sagte Nell.
    »Bitte treten Sie ein«, sagte der junge Mann und deutete auf eine Diamanttür mit der Aufschrift M ADAME P ING in roten Buchstaben. »Möchten Sie gerne einen Tee?«
     
    »Im Grunde genommen gibt es nur zwei Industriezweige. Das ist immer so gewesen«, sagte Madame Ping und legte die gebrechlichen Finger um eine hübsche Teetasse aus Porzellan, so daß ihre fünf Zentimeter langen roten Fingernägel fein säuberlich überein-anderlagen wie die Flügelspitzen eines Raubvogel, der nach einem langen, harten Tag im Schwebeflug über den Aufwinden seine Schwingen zusammenfaltet. »Die Industrie der Sachen und die Industrie der Unterhaltung. Die Industrie der Sachen kommt zuerst. Sie hält uns am Leben. Aber heutzutage, wo wir den Feeder haben, ist es nicht mehr schwer, Sachen zu machen. Es ist keine besonders interessante Branche mehr.
    Wenn die Menschen alles haben, was sie zum Leben brauchen, ist der Rest nur noch Unterhaltung. Alles. Und das ist Madame Pings Geschäft.«
    Madame Ping hatte ein Büro im hundertundelften Stock, mit einer hübschen, unbehinderten Aussicht über den Huang Pu und die Innenstadt von Shanghai. Wenn es nicht neblig war, konnte man sogar die Fassade ihres Theaters erkennen, das in einer Seitenstraße ein paar Blocks vom Bund entfernt lag, wo man den mediatronischen Baldachin zerstückelt zwischen den grauschwarzen Ästen einer alten Sykomore sehen konnte. An einem ihrer Fenster hatte sie ein Teleskop montiert, das auf den Eingang des Theaters gerichtet war, und als sie Nells Neugier bemerkte, forderte sie sie auf, einen Blick hindurchzuwerfen.
    Nell hatte bisher noch nie durch ein richtiges Teleskop gesehen. Es wackelte und verschwamm, zoomte nicht, und die Justierung erforderte Fingerspitzengefühl. Aber davon abgesehen war die Bildqualität weitaus besser als die einer Fotografie, und es dauerte nicht lange, bis sie den Blick selbstvergessen über die ganze Stadt schweifen ließ. Sie suchte die winzige Klave des Himmlischen Königreichs im Herzen der Altstadt, wo zwei Mandarins auf einer zickzackförmigen Brücke über einen Teich standen und einen Schwarm goldener Karpfen betrachteten; ihre flusigen silbernen Barte hingen auf die bunte Seide ihrer Rockaufschläge hinab, und die blauen Saphirknöpfe ihrer Hüte funkelten, wenn sie mit den Köpfen nickten. Sie sah in ein Hochhaus weiter im Landesinneren hinein, offenbar eine ausländische Konzessionsparzelle, wo ein paar Euros eine Cocktailparty veranstalteten, wobei manche mit Weingläsern auf den Balkon hinausgingen und selbst ein bißchen spionierten. Schließlich richtete sie das Teleskop auf den Horizont, über die weiten, gefährlichen, von Banden heimgesuchten Vororte hinweg, wohin eine große Zahl der Ärmsten von Shanghai zwangsweise vertrieben worden waren, um Platz für Wolkenkratzer zu schaffen. Dahinter lagen wahrhaftig landwirtschaftliche Nutzflächen, ein fraktales Netz von Kanälen und Bächen, die wie ein goldenes Gitter schimmerten, wenn sich das Licht der untergehenden Sonne darin spiegelte, und dahinter wiederum, wie immer, einige vereinzelte Rauchsäulen in weiter Ferne, wo die Fäuste der Rechtschaffenen

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