Diamond Age - Die Grenzwelt
Maggie«, sagte Hackworth, stand auf und steckte das Blatt Papier ein. Fiona folgte dem Beispiel ihres Vaters und erhob sich ebenfalls. »Hatten Sie vor Ihrem Besuch in London ein aktives gesellschaftliches Leben geführt?«
Maggie errötete ein wenig. »Ein paar Jahre lang ziemlich aktiv, ja.«
»Was für Leute? Typen und CryptNet? Leute, die viel Zeit am Wasser verbrachten?«
Maggie schüttelte den Kopf. »Am Wasser? Ich verstehe nicht.«
»Fragen Sie sich, weshalb Sie so untätig sind, Maggie, seit Ihrer Liaison mit Mr. –«
»Beck. Mr. Beck.«
»Mit Mr. Beck. Könnte es sein, daß Sie das Erlebnis ein klein wenig beunruhigend fanden? Austausch von Körperflüssigkeiten, gefolgt von einem drastischen Anstieg der Körpertemperatur?«
Maggie machte ein Pokerface.
»Ich schlage vor, daß Sie sich über das Thema spontane Verbrennung informieren«, sagte Hackworth. Dann nahm er ohne weitere Umschweife seine Melone und den Schirm neben dem Eingang und führte Fiona wieder in den Wald hinaus.
Hackworth sagte: »Maggie hat dir nicht alles über CryptNet verraten. Zunächst einmal munkelt man, daß sie viele anrüchige Verbindungen haben und ein Schwerpunkt der Ermittlungen der Protokollwahrung sind. Und« – Hackworth lachte kläglich – »zehn ist definitiv nicht die höchste Ebene.«
»Was ist das Ziel dieser Organisation?« fragte Fiona.
»Sie stellt sich selbst als einfaches, mäßig erfolgreiches Datenverarbeitungskollektiv dar. Aber die wahren Ziele können nur diejenigen kennen, die das Privileg genießen, sich in den Vertrauensgrenzen der dreiunddreißigsten Ebene zu bewegen«, sagte Hackworth, der langsamer sprach, während er zu ergründen versuchte, woher er das alles wußte. »Man munkelt, daß es in diesem erlauchten Kreis jedem Mitglied möglich ist, ein anderes zu töten, indem es nur daran denkt.«
Fiona beugte sich nach vorne, schlang die Arme um den Körper ihres Vaters, schmiegte sich an ihn, preßte den Kopf zwischen seine Schulterblätter und drückte ihn fest. Sie glaubte, daß das Thema CryptNet abgeschlossen wäre; aber eine Viertelstunde später, als Kidnapper sie geschwind zwischen den Bäumen hindurch nach Seattle trug, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort und fuhr dort fort, wo er aufgehört hatte, als hätte er zwischendurch nur Luft geholt. Seine Stimme klang träge und abwesend, fast wie in Trance, als würden Erinnerungen ohne Zutun seines Bewußtseins aus tiefsten Tiefen an die Oberfläche dringen. »Das wahre Ziel von CryptNet ist die Saat – eine Technologie, die in ihrem diabolischen Plan dereinst die Feeder ersetzen soll, auf denen unsere Gesellschaft und viele andere basieren. Uns hat das Protokoll Reichtum und Wohlstand gebracht – aber für CryptNet ist es ein verabscheuungswürdiges System der Unterdrückung. Sie glauben, daß Informationen über eine fast mystische Gabe des ungehinderten Fließens und der Selbstreproduktion verfügen, so wie sich Wasser seinen eigenen Weg bahnt oder Funken in die Höhe fliegen – und da ihnen ein moralischer Kodex fehlt, verwechseln sie Unausweichlichkeit mit Recht. Sie hegen den Glauben, daß es eines Tages keine Feeder mehr gibt, die in MaterieCompilern münden, sondern nur noch Samen, die, wenn man sie in die Erde pflanzt zu Häusern, Hamburgern, Raumschiffen und Büchern heranwachsen –, daß die Saat unweigerlich auf die Feeder folgt und auf ihnen eine höherentwickelte Gesellschaft aufbauen wird.«
Er verstummte einen Augenblick, holte tief Luft und schien zu erwachen; als er weitersprach, klang seine Stimme deutlicher und kräftiger. »Das darf selbstverständlich nicht geduldet werden – die Feeder sind kein System der Kontrolle und Unterdrückung, wie CryptNet behauptet. Nur durch sie läßt sich in einer modernen Gesellschaft die Ordnung aufrechterhalten - wenn jeder eine Saat besitzen würde, dann könnte jeder Waffen herstellen, deren Zerstörungskraft denen Elizabethanischer Atombomben gleichkommt. Darum hat die Protokollwahrung so ein wachsames Auge auf die Aktivitäten von CryptNet geworfen.«
Die Bäume blieben hinter ihnen zurück und gaben den Blick auf einen blauen See unter ihnen frei. Kidnapper bahnte sich einen Weg zur Straße, und Hackworth spornte ihn zu einem gemächlichen Galopp an. Wenige Stunden später ließen sich Vater und Tochter auf Pritschen in einer Kabine zweiter Klasse des Luftschiffs
Falkland Islands
mit Kurs auf London sinken.
Aus der Fibel: Prinzessin Nells Aktivitäten als
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