Diamond Age - Die Grenzwelt
hatten, oder eine große Dosis Milben durch die Nasenlöcher einsaugten, die darauf programmiert waren, entzündete Po-backen aufzusuchen und über Nacht beschädigte Blutgefäße zu reparieren. Selbstverständlich fanden auch zahlreiche traditionellere Aktivitäten statt, zum Beispiel Duschen , Abschminken, Eincremen und dergleichen. Die Mädchen erledigten diese Tätigkeiten allesamt forsch, mit der beiläufigen Zielstrebigkeit, die allen Chinesinnen eigen zu sein schien, und unterhielten sich dabei im trockenen Shanghaier Dialekt über die Ereignisse des Tages. Nell lebte seit einem Monat bei diesen Mädchen und verstand gerade die ersten Worte. Sie sprachen ohnehin alle Englisch.
Sie blieb lange wach und las im Dunkeln in der Fibel. Der Schlafsaal war dafür bestens geeignet; Madame Pings Mädchen waren Profis, nach ein wenig Tuscheln, Kichern und entrüstetem allgemeinen Zischen schliefen sie stets ein.
Nell spürte, daß das Ende der Fibel nicht mehr fern war.
Das wäre auch dann klar gewesen, wenn sie nicht auf dem Weg zu Kojote gewesen wäre, dem zwölften und letzten Feenkönig. In den letzten paar Wochen, seit Prinzessin Nell das Reich von König Kojote betreten hatte, hatte sich der Charakter der Fibel verändert. Bislang hatten ihre Freunde der Nacht und andere Figuren selbständig gehandelt, auch wenn Nell einfach passiv blieb. Wenn sie in der Fibel las, hatte das stets bedeutet, daß sie mit anderen Personen in dem Buch ragierte, während sie eine Anzahl interessanter Situationen gedanklich bewältigen mußte.
In letzter Zeit fehlte dieses erste Element fast vollkommen. Schloß Turing war ein sattsames Beispiel für das Reich von König Kojote: ein Reich fast ohne Menschen, allerdings voller faszinierender Orte und Situationen.
Sie zog sich einsam durch das Reich von König Kojote, besuchte ein Schloß nach dem anderen und fand in jedem ein anderes Rätsel. Das zweite (nach Schloß Turing) lag an einem Berghang und verfügte über ein komplexes Bewässerungssystem, bei dem Wasser aus einer sprudelnden Quelle durch ein System von Toren geleitet wurde. Es gab viele Tausende dieser Tore, und alle waren in kleineren Gruppen miteinander verbunden, so daß alle anderen Tore einer Grupe beeinflußt wurden, wenn man eines davon öffnete oder schloß. In diesem Schloß wurden die benötigten Nahrungsmittel angebaut, und es litt an einer schrecklichen Hungersnot, weil die Anordnung der Tore irgendwie durcheinandergeraten war. Ein dunkler, geheimnisvoller Ritter hatte am Schloß einen Besuch abgestattet und sich offenbar mitten in der Nacht aus seinem Schlafzimmer geschlichen und so an den Toren zu schaffen gemacht, daß das Wasser nicht mehr auf die Felder floß. Danach war er verschwunden und hatte die Nachricht hinterlassen, daß er das Problem für eine große Menge Gold und Juwelen wieder beseitigen würde.
Prinzessin Nell verwendete einige Zeit auf das Studium dieses Problems und stellte schließlich fest, daß es sich bei dem System der Tore um eine äußerst raffinierte Version einer der Maschinen des Herzogs von Turing handelte. Als sie begriffen hatte, daß das Verhalten der Wassertore geordnet und vorhersehbar verlief, dauerte es nicht lange, und sie konnte ihr Verhalten programmieren und die »bugs« aufspüren, die der dunkle Ritter in das System eingespeist hatte. Wenig später floß das Wasser wieder durch das Bewässerungssystem, und die Hungersnot war vorbei.
Die Menschen, die in dem Schloß wohnten, waren dankbar; damit hatte sie gerechnet. Aber dann setzten sie ihr eine Krone auf den Kopf und machten sie zu ihrer Herrscherin, und damit hatte sie nicht gerechnet.
Aber als sie ein wenig gründlicher darüber nachdachte, erschien es nur logisch. Sie würden sterben, wenn ihr System nicht ordnungsgemäß funktionierte. Prinzessin Nell war die einzige, die genau wußte, wie es funktionierte; sie hielt das Schicksal der Menschen in ihrer Hand. Ihnen blieb kaum eine andere Wahl, als sich ihrem Diktat zu unterwerfen.
So kam es, daß Prinzessin Nell, während sie von Schloß zu Schloß zog, ohne es zu wollen, zur Anführerin einer ausgewachsenen Rebellion gegen König Kojote wurde. Jedes Schloß hing von einer Art programmierbarem System ab, das ein klein wenig komplizierter war als das vorhergehende. Nach dem Schloß der Wassertore kam sie zu einem Schloß mit einer prachtvollen Orgel, die mit Druckluft und mittels eines unübersichtlichen Gitters von Bolzen betrieben wurde, die Musik spielen
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