Diamond Age - Die Grenzwelt
konnten, welche in Form von Löchern in eine Papierrolle eingestanzt worden waren. Ein geheimnisvoller dunkler Ritter hatte die Orgel so programmiert, daß sie eine traurige, deprimierende Melodie spielte, die das gesamte Schloß in tiefe Depressionen stürzte, so daß niemand mehr arbeitete oder auch nur aus dem Bett aufstand. Prinzessin Nell experimentierte ein wenig herum und fand heraus, daß man das Verhalten der Orgel durch eine extrem komplexe Anordnung von Wassertoren simulieren konnte, was seinerseits wiederum bedeutete, daß es sich auf ein unvorstellbar langes und kompliziertes Programm für Turing-Maschinen reduzieren ließ.
Als die Orgel wieder einwandfrei funktionierte und die Bewohner aufgeheitert waren, kam sie in ein Schloß, das nach Regeln funktionierte, die in einer seltsamen Sprache in einem großen Buch geschrieben standen. Der geheimnisvolle dunkle Ritter hatte ein paar Seiten aus diesem Buch herausgerissen, und Prinzessin Nell mußte sie rekonstruieren und die Sprache lernen, die äußerst kernig war und in übertriebenem Maße von Parenthesen Gebrauch machte. Dabei trat sie, wie nicht anders zu erwarten, den Beweis an, daß das System zur Verarbeitung dieser Sprache im Grunde genommen nur eine komplexere Version der mechanischen Orgel war, also eine Turing-Maschine.
Danach kam ein Schloß, das in viele kleine Zimmer unterteilt war und über ein System verfügte, bei dem Botschaften mittels einer Rohrpost von einem Zimmer zum nächsten befördert wurden. In jedem Zimmer hielten sich eine Gruppe Menschen auf, die auf die Botschaften reagierten, indem sie bestimmte in Büchern festgelegte Regeln befolgten, die normalerweise darauf hinausliefen, weitere Botschaften in andere Zimmer zu schicken. Nachdem sie sich mit einigen dieser Regelbücher vertraut gemacht und bestätigt hatte, daß es sich auch bei diesem Schloß um eine Turing-Maschine handelte, behob Prinzessin Nell ein Problem des Botschaftenübermittlungssystems, das der lästige dunkle Ritter verursacht hatte, nahm ihre Herzogskrone entgegen und zog weiter zum Schloß Nummer sechs.
Dieses Schloß war vollkommen anders. Es war viel größer. Es war viel reicher. Und im Gegensatz zu allen anderen Schlössern im Reich von König Kojote, funktionierte es. Als sie sich diesem Schloß näherte, lernte sie rasch, ihr Pferd stets am Straßenrand zu führen, da ununterbrochen Botschafter in beiden Richtungen in gestrecktem Galopp an ihr vorbeipreschten.
Es handelte sich um einen riesigen Marktplatz mit Tausenden Buden, wo Wagen und Läufer Produkte in alle Richtungen trugen. Aber kein Gemüse, keine Fische, keine Gewürze und kein Futter waren zu sehen; bei sämtlichen Produkten handelte es sich um in Büchern niedergeschriebene Informationen. Die Bücher wurden mit Schubkarren oder auf großen, langen und baufällig aussehenden Förderbändern aus Hanf und Juteleinen transportiert. Bücherboten stießen zusammen, verglichen Aufzeichnungen, was sie beförderten und wohin sie es brachten, und tauschten ihre Bücher gegen andere Bücher aus. Ganze Bücherstapel wurden bei gut besuchten, lautstarken Auktionen verkauft – aber nicht mit Gold, sondern mit anderen Büchern bezahlt. An den Rändern des Marktes befanden sich Buden, wo man Bücher für Gold verkaufen konnte, und dahinter einige Straßen, wo man für das Gold Lebensmittel bekam.
In der Mitte dieses Tohuwabohus sah Prinzessin Nell einen dunklen Ritter auf einem schwarzen Pferd sitzen und in einem dieser Bücher blättern. Ohne viel Aufhebens gab sie ihrem Pferd die Sporen und zückte ihr Schwert. Sie besiegte ihn im Zweikampf mitten auf dem Marktplatz, und die Buchhändler wichen einfach aus und beachteten sie nicht weiter, während Prinzessin Nell und der dunkle Ritter aufeinander einschlugen. Als der dunkle Ritter tot zu Boden fiel und Prinzessin Nell das Schwert in die Scheide steckte, schlossen sich die Massen wieder um sie wie das Wasser eines aufgewühlten Stroms, das über einem umgestürzten Stein zusammenschlägt.
Nell hob das Buch auf, in dem der dunkle Ritter gelesen hatte, und stellte fest, daß es nur sinnloses Gestammel enthielt. Es war in einer Art Kode geschrieben.
Sie schlenderte eine Zeitlang herum und suchte nach dem Mittelpunkt des Platzes, fand aber keinen. Eine Bude glich der anderen. Es gab keinen Turm, keinen Thronsaal, keine erkennbare Hierarchie der Macht.
Als sie die Buden des Marktes genauer betrachtete, stellte sie fest, daß in jeder ein Mann an einem
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