Diamond Age - Die Grenzwelt
goldenen Stoff verwahrt - und möglicherweise auch den Schlüssel.
Als sie weiter durch das Buch blätterte, stieß sie auf eine längst vergessene Geschichte, wie ihre böse Stiefmutter nach dem Verschwinden ihres Vaters die Kiste mit auf eine hohe Klippe über dem Meer nahm und sie in die Fluten warf, um alle Beweise zu vernichten, daß Prinzessin Nell von königlichem Geblüt war. Sie hatte nicht gewußt, daß ihre Stieftochter sie aus einem Gebüsch heraus beobachtete, wo sie sich häufig versteckte, wenn ihre Stiefmutter einen ihrer Wutanfälle bekam.
Nell blätterte zur letzten Seite der
Illustrierten Fibel für die junge Dame.
Als sich Prinzessin Nell dem Rand der Klippe näherte, wobei sie in der Dunkelheit äußerst vorsichtig ging und darauf achtete, daß sie den Saum ihres Nachthemds nicht an Dornengestrüpp zerriß, hatte sie den merkwürdigen Eindruck, als hätte der gesamte Ozean schwach zu leuchten begonnen. Dieses Phänomen war ihr vom Fenster ihrer Bibliothek hoch droben im Turm aus schon oft aufgefallen, und sie hatte sich überlegt, daß die Wellen das Licht von Mond und Sternen widerspiegeln mußten. Aber dies war eine bewölkte Nacht, das Firmament glich einer Schüssel aus poliertem Onyx und ließ kein Licht vom Himmel herab. Das Licht, das sie sah, mußte von unten kommen.
Prinzessin Nell näherte sich vorsichtig dem Rand der Klippe und sah, daß ihre Vermutung zutraf. Das Meer – die einzige Konstante auf der ganzen Welt-, aus dem sie als Kind gekommen war, in dem das Land Jenseits aus der Saat von König Kojote gewachsen und in das es wieder verschwunden war -, dieses Meer lebte. Seit König Kojotes Abschied war Prinzessin Nell davon ausgegangen, daß sie ganz alleine auf der Welt war. Aber nun sah sie beleuchtete Städte unter der Wasseroberfläche und wußte, sie war nur allein, weil sie selbst es so gewollt hatte.
»›Prinzessin Nell nahm den Saum ihres Nachthemds in beide Hände, zog es über den Kopf und ließ den kalten Wind über ihren Körper streichen und das Gewand fortwehen‹«, sagte Nell. »›Dann holte sie tief Luft, machte die Augen zu, beugte die Knie und sprang ins Leere.‹«
Sie las, wie ihr die leuchtenden Wellen entgegenrasten, als es plötzlich hell im Zimmer wurde. Sie sah zur Tür, weil sie dachte, daß jemand hereingekommen war und das Licht angemacht hatte, aber sie war allein, und das Licht flackerte an der Wand gegenüber. Sie sah in die andere Richtung.
Der mittlere Abschnitt der Brücke war zu einem gleißenden Ball weißen Lichts geworden, der ein marmoriertes Leichentuch kalter, dunkler Materie in die Nacht schleuderte. Der Ball dehnte sich aus, bis er den größten Teil der Strecke zwischen New Chusan und dem Ufer des Pudong einzunehmen schien, doch mittlerweile war seine Farbe von grellweiß zu einem düsteren Orangerot nachgedunkelt, und die Explosion hatte einen stattlichen Krater ins Wasser gepreßt, der zu einer kreisförmigen Flutwelle aus Dampf und Gischt wurde, die so mühelos über die Wasseroberfläche glitt wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe.
Bruchstücke der gigantischen Feederleitung, die den größten Teil der Masse der Brücke ausmachte, waren durch die Explosion himmelwärts geschleudert worden und flogen nun sich überschlagend durch den nächtlichen Himmel; ihre trägen Bewegungen zeigten deutlich ihre Größe, und sie warfen ein gelbliches Schwefellicht über die ganze Stadt, während sie im Luftzug ihrer eigenen Bewegung heftig lodernd brannten. Das Licht ließ zwei gewaltige Wasserfontänen erkennen, die nördlich und südlich von der Brücke aus dem Meer aufstiegen; Nell wurde klar, daß die Fäuste die Feeder von Nippon und Hindustan im selben Augenblick gesprengt haben mußten. Also verfügten die Fäuste der Rechtschaffenen Harmonie inzwischen über Nanotechsprengstoffe; sie hatten große Fortschritte gemacht, seit sie versucht hatten, die Brücke über dem Huang Pu mit ein paar Flaschen Wasserstoff zu sprengen.
Die Druckwelle brachte die Fensterscheiben zum Klirren, mehrere Mädchen schreckten aus dem Schlaf hoch. Nell hörte, wie sie sich murmelnd im Schlafsaal unterhielten. Sie fragte sich, ob sie hineingehen und ihnen sagen sollte, daß Pudong abgeschnitten war, daß das letzte Gefecht der Fäuste begonnen hatte. Aber obwohl sie nicht verstehen konnte, was sie sagten, verstand sie ihren Tonfall nur zu deutlich: Sie waren nicht überrascht von den Ereignissen.
Sie waren allesamt Chinesinnen und konnten einfach
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