Diamond Age - Die Grenzwelt
wiederum aus vier Zügen zu vier Trupps von jeweils vier Mädchen zusammensetzten. Die Vorhut bestand aus einem derartigen Bataillon, das sich im Laufschritt voranbewegte und der Hauptgruppe vorauseilte – wahrscheinlich, um die nächste Straßenkreuzung zu besetzen.
Dann kam schließlich das in Bataillonen organisierte Hauptkontingent vorbei; sämtliche Füße stapften in perfektem Gleichschritt auf. Jedes Bataillon trug einige Sänften, die von einer Vierergruppe zur nächsten weitergereicht wurden, um niemanden über Gebühr zu belasten. Es waren keine Luxussänften, sondern aus Bambus und Plastikseilen improvisiert und mit Materialien aus alten Imbißrestaurantmöbeln gepolstert. In diesen Sänften saßen Mädchen, die sich kaum von den anderen unterschieden, davon abgesehen, daß sie vielleicht ein oder zwei Jahre älter sein mochten. Sie schienen keine Offiziere zu sein; sie gaben keine Befehle und trugen keine speziellen Rangabzeichen. Hackworth verstand nicht, weshalb sie in Sänften getragen wurden, bis er eines der Mädchen sehen konnte, das einen Fuß auf ihr Knie gelegt und den Schuh ausgezogen hatte: Ihr Fuß war mißgebildet; er war ein paar Zentimeter zu kurz.
Aber alle anderen Mädchen in den Sänften konzentrierten sich voll und ganz auf ihre Fibeln. Hackworth löste ein kleines optisches Gerät von seiner Uhrkette, ein nanotechnologisches Teleskop/Mikroskop, das ihm mitunter gute Dienste leistete, und schaute damit einem der Mädchen über die Schulter. Das Mädchen betrachtete die kleine Skizze eines nanotechnologischen Mechanismus und absolvierte ein Bildungsprogramm, das Hackworth vor einigen Jahren geschrieben hatte. Das Heer zog viel schneller vorbei, als Hackworth befürchtet hatte; sie rasten wie ein Kolben den Highway hinab. Jedes Bataillon trug eine Flagge, eine bescheidene, aus einem Bettlaken improvisierte Fahne. Jede Flagge trug die Nummer des Bataillons und ein Wappen, das Hackworth nur zu gut kannte, da es eine bedeutende Rolle in der Fibel spielte. Alles in allem zählte er zweihundertsechsundfünfzig Bataillone. Fünfundsechzigtausend Mädchen stürmten an ihm vorbei Richtung Shanghai.
In der Fibel kehrt Prinzessin Nell zum Dunklen Schloß zurück;
Harvs Tod; die Bücher des Buches und der Saat;
Prinzessin Nells Suche nach ihrer Mutter;
Zerstörung der Brücke; Nell fällt den Fäusten in die Hände;
ihre Flucht und größere Gefahr; Erlösung.
Prinzessin Nell hätte die ganze Macht, die sie im Verlauf ihrer großen Reise erlangt hatte, darauf verwenden können, Harvs Grab auszuheben, oder sie hätte die Arbeit von der Entzauberten Armee erledigen lassen können, aber das schien ihr nicht angemessen zu sein, daher nahm sie einen alten rostigen Spaten zur Hand, den sie in einem Nebengebäude des Dunklen Schlosses gefunden hatte. Der Boden war trocken und steinig und von den Wurzeln zahlreicher Dornenbüsche durchzogen, und mehr als einmal stieß sie mit dem Spaten auf uralte Knochen. Prinzessin Nell grub den ganzen langen Tag über und weichte den harten Boden mit ihren Tränen auf, ließ aber erst ab, als der Boden sich auf einer Höhe mit ihrem Kopf befand. Dann ging sie in den kleinen Raum im Dunklen Schloß, wo Harv an der Schwindsucht gestorben war, wickelte seinen ausgemergelten Leichnam behutsam in weiße Seide ein und trug ihn zu dem Grab. Sie fand Lilien, die wild im zugewucherten Garten des kleinen Fischerhäuschens wuchsen, und legte ihm einen Strauß mit ins Grab, zusammen mit einem kleinen Märchenbuch für Kinder, das Harv ihr vor vielen Jahren geschenkt hatte. Harv konnte nicht lesen, daher hatte Prinzessin Nell ihm in vielen Nächten, in denen sie im Hof des Dunklen Schlosses am Lagerfeuer gesessen hatten, daraus vorgelesen, und darum dachte sie, daß er es vielleicht gerne bei sich haben würde.
Das Grab war schnell wieder zugeschüttet; das lockere Erdreich reichte mehr als aus, die Grube zu füllen. Nell legte weitere Lilien auf den länglichen Erdhügel von Harvs letzter Ruhestätte. Dann drehte sie sich um und betrat das Dunkle Schloß. An den fleckigen Granitwänden spiegelte sich ein lachsfarbener Widerschein vom westlichen Himmel, und Nell vermutete, daß sie in dem Turmzimmer, wo sie ihre Bibliothek untergebracht hatte, einen herrlichen Sonnenuntergang zu sehen bekommen würde.
Sie mußte eine lange, klamme und schimmlige Treppe hinaufsteigen, die sich im Inneren des höchsten Turms im Schloß emporwand. In dem runden Zimmer ganz oben, dessen
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