Diamond Age - Die Grenzwelt
natürliche Substanz und ließ sich unmöglich aufbrechen. Prinzessin Nell wußte nicht, wovon dieses Buch handelte; aber der Einband zeigte die Illustration eines enthülsten Samenkorns, wie den apfelgroßen Kern, den sie in König Kojotes Stadt gesehen halte, wo er benutzt worden war, um einen Kristallpavillon zu bauen, und das sagte genug über den Zweck des Buches aus.
Nell machte die Augen auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Die Fibel klappte zu und rutschte von Nells Bauch auf die Matratze. Sie war beim Lesen eingeschlafen.
Die Mädchen lagen ringsum auf ihren Pritschen, atmeten leise und rochen nach Seife. Das erweckte in ihr den Wunsch, sich zurückzulegen und auch zu schlafen. Aber aus einem unerfindlichen Grund stützte sie sich auf einen Ellbogen. Ein Instinkt sagte ihr, daß sie aufbleiben mußte.
Sie richtete sich auf, zog die Knie an die Brust, zog den Saum ihres Nachthemds zwischen den Laken hervor, drehte sich um und ließ sich lautlos auf den Boden hinab. Barfuß ging sie geräuschlos zwischen den Pritschenreihen hindurch zu dem kleinen Aufenthaltsraum, wo die Mädchen normalerweise saßen, Tee tranken, sich das Haar bürsteten und alte Passive ansahen. Nun war der Raum verlassen, die Lichter ausgeschaltet, und durch die Eckfenster konnte man ein weites Panorama sehen: Im Nordosten die Lichter von New Chusan und den nipponesischen und hindustanischen Niederlassungen, die wenige Kilometer vor der Küste standen, und die entlegenen Viertel von Pudong. Die Innenstadt von Pudong lag ringsum, die schwebenden, mediatronischen Wolkenkratzer sahen wie biblische Feuersäulen aus. Im Nordwesten lagen der Fluß Huang Pu, Shanghai samt seinen Vororten, und dahinter die verwüsteten Seiden- und Teeregionen. Im Augenblick brannten dort keine Feuer mehr; die Feederleitungen waren bis zum Stadtrand niedergebrannt worden, und die Fäuste hatten dort haltgemacht und Stellung bezogen, während sie nach einer Möglichkeit suchten, die kümmerlichen Überreste des Sicherheitsgitters zu überwinden.
Nells Blick wurde zum Wasser gezogen. Die Innenstadt von Pudong bot das spektakulärste nächtliche Panorama, das sich jemals jemand ausgedacht hatte, aber Nell mußte immer wieder feststellen, daß sie darüber hinweg sah und statt dessen den Huang Pu, den Jangtse im Norden oder die Pazifikküste hinter New Chusan anstarrte.
Ihr wurde bewußt, daß sie geträumt hatte. Sie war nicht wegen einer Störung von außen aufgewacht, sondern wegen der Ereignisse im Traum. Sie mußte sich daran erinnern, konnte es aber nicht.
Nur ein paar Bruchstücke: das Gesicht einer Frau, einer wunderschönen jungen Frau, die möglicherweise eine Krone trug, aber das hatte sie nur verschwommen gesehen wie durch aufgewühltes Wasser. Und etwas Glitzerndes in ihrer Hand.
Nein, es baumelte unter ihrer Hand. Ein Schmuckstück an einer goldenen Kette.
Konnte es ein Schlüssel gewesen sein? Nell konnte das Bild nicht mehr heraufbeschwören, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß es einer gewesen war.
Noch eine Einzelheit: ein schimmernder Schleier, der einmal, zweimal, dreimal an ihrem Gesicht vorbeihuschte. Etwas Gelbes, in das ein ständig wiederkehrendes Muster eingewoben war: ein Wappen, das aus einem Buch, einem Samenkorn und gekreuzten Schlüsseln bestand.
Stoff aus Gold. Vor langer Zeit hatten die Meerjungfrauen sie zu ihrem Stiefvater gebracht, da war sie in goldenen Stoff eingewickelt gewesen, und daher hatte sie immer gewußt, daß sie eine Prinzessin war.
Die Frau im Traum, in tosendes Wasser gehüllt, mußte ihre Mutter gewesen sein. Der Traum stellte eine Erinnerung an ihre vergessene Kindheit dar. Und bevor ihre Mutter sie den Meerjungfrauen anvertraut hatte, hatte sie Prinzessin Nell einen goldenen Schlüssel an einer Kette gegeben.
Nell setzte sich auf den Fenstersims, lehnte sich an die Scheibe, schlug die Fibel auf und blätterte ganz an den Anfang zurück. Das Buch fing mit derselben alten Geschichte an wie immer, aber jetzt in Erwachsenenprosa verfaßt. Sie las die Geschichte, wie ihr Stiefvater sie von den Meerjungfrauen bekommen hatte, dann las sie sie noch einmal, entlockte ihr mehr Einzelheiten, stellte Fragen und rief detailliertere Illustrationen auf.
In einer Illustration sah sie es: Das Schlüsselkästchen ihres Vaters, eine schlichte Kiste aus Holzbrettern mit rostigen Eisenbändern beschlagen und mit einem altmodischen Vorhängeschloß gesichert, die unter seinem Bett stand. In dieser Kiste hatte er den
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