Diamond Age - Die Grenzwelt
Am Anfang hatte man eine leere Kammer, eine Halbkugel aus Diamant, in der trübes rotes Licht glomm. Im Zentrum der Bodenplatte konnte man das nackte Kreuz eines acht Zentimeter großen Feeders und eine zentrale Vakuumpumpe erkennen, die von einer Anzahl kleinerer Leitungen umgeben wurde, bei denen es sich um mikroskopische Förderbänder handelte, die nanomechanische Bauteile - einzelne Atome oder ganze, zu praktischen Bausteinen zusammengesetzte Gruppen - transportierten.
Der Materie-Compiler war eine Maschine, die am Endpunkt eines Feeders saß und nach den Weisungen eines bestimmten Programms Moleküle Stück für Stück von den Förderbändern nahm und zu komplizierteren Gebilden zusammensetzte.
Hackworth war der Programmierer. Runcible war das Programm. Es setzte sich aus einer Anzahl von Unterprogrammen zusammen, die bis vor wenigen Minuten noch alle auf verschiedenen Blättern verteilt gewesen waren, als der ungeheuer leistungsstarke Computer in Hackworths Büro sie zu einem einzigen Programm kompiliert hatte, das in einer Sprache geschrieben war, die der Materie-Compiler verstehen konnte.
Ein transparenter Dunst wuchs über den Endpunkt des Feeders wie Schimmel auf einer überreifen Erdbeere. Der Dunst wurde dichter und nahm eine Form an, manche Stellen etwas höher als andere. Er breitete sich auf dem Boden aus, weg von der Feeder-Leitung, bis er seine vorbestimmte Grundfläche angenommen hatte: einen Quadranten eines Kreises mit einem Radius von zwölf Zentimetern. Hackworth sah weiter zu, bis er sicher war, daß er die Oberkante des Buchs daraus erwachsen sah.
In der Ecke seines Labors stand die weiterentwickelte Version einer Kopiermaschine, die praktisch jede Art von gespeicherter Information nehmen und in etwas anderes verwandeln konnte. Sie konnte sogar eine Information vernichten und dann bestätigen, daß sie sie vernichtet hatte, was in der vergleichsweise paranoiden Umgebung der Abteilung Sonderprojekte recht nützlich schien. Hackworth übergab ihm das Dokument mit dem kompilierten Kode von Runcible und vernichtete ihn. Nachweislich.
Als der Vorgang beendet war, beseitigte Hackworth das Vakuum und hob die Diamantkuppel. Das fertige Buch stand aufrecht auf dem System, welches es erzeugt hatte, das in dem Moment zu Abfall zerfiel, als es mit der Luft in Berührung kam. Hackworth nahm das Buch in die rechte und das Erzeugersystem in die linke Hand, dann warf er letzteres in den Abfalleimer.
Er schloß das Buch in einer Schreibtischschublade ein, nahm seinen Zylinder, die Handschuhe und den Spazierstock, schnallte sich in seinen Geher und machte sich auf den Weg zur Brücke. Nach Shanghai.
Nells & Harvs allgemeine Lebensumstände; die Leasing-Parzellen; Tequila.
China lag gegenüber, am anderen Ufer, und wenn man zum Strand hinunterging, konnte man es sehen. Die Stadt, die dort lag, die mit den Wolkenkratzern, hieß Pudong, und dahinter lang Shanghai. Harv ging manchmal mit seinen Freunden dorthin. Er sagte, es wäre größer, als man sich vorstellen konnte, alt und schmutzig und voll von seltsamen Menschen und Sehenswürdigkeiten.
Sie lebten in den LP, was laut Harv eine Abkürzung für Leasing-Parzellen war. Die Mediaglyphe dafür kannte Nell schon. Harv hatte ihr auch das Zeichen für Zauberland gezeigt, der Name der Parzelle, wo sie lebten; es war eine Prinzessin, die goldene Fünkchen auf graue Häuser verstreute, die gelb und strahlend wurden, wenn die Fünkchen sie berührten. Nell hielt die Fünkchen für Milben, aber Harv bestand darauf, daß Milben zu klein seien, um mit bloßem Auge gesehen zu werden, daß es sich bei dem Stab um einen Zauberstab und bei den Fünkchen um Feenstaub handelte. Wie auch immer, Harv sorgte dafür, daß sie sich diese Mediaglyphe einprägte, damit sie immer nach Hause finden konnte, sollte sie sich einmal verirren.
»Aber es ist besser, wenn du einfach mich rufst«, sagte Harv, »ich komm dich dann holen.«
»Warum?«
»Weil es da draußen böse Menschen gibt und du nicht allein durch die LP laufen solltest, nie und nimmer.«
»Was für böse Menschen?«
Harv sah besorgt drein, seufzte mehrfach und wurde ganz zappelig. »Weißt du noch, in welchem Raktiven ich gestern drin war, dem mit den Piraten, die Kinder gefesselt haben und über die Planke laufen ließen?«
»Ja.«
»In den LP gibt es auch Piraten.«
»Wo?«
»Such gar nicht erst nach ihnen. Du kannst sie nicht sehen. Sie sehen nicht wie Piraten aus, mit großen Hüten und Schwertern
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