Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
verschließen können, aber Atlantis/Shanghai hatte das Gefühl in ihm geweckt, daß alle alten Städte der Welt dem Untergang geweiht waren, es sei denn, sie überlebten als Freizeitparks, und die Zukunft in den neuen Städten lag, die Atom für Atom auf dem Urgestein erbaut worden und deren Feederleitungen so unverzichtbar für sie waren wie Kapillaren für das Fleisch. Die alten Viertel von Shanghai, frei von Feedern oder mit Feedern auf Bambusstäben ausgestattet, kamen ihm beängstigend träge vor, wie ein Opiumsüchtiger, der mitten auf einer belebten Innenstadtstraße kauerte, Rauch aus den Nasenlöchern blies und in einen uralten Traum hineinsah, den die geschäftigen Fußgänger in unbenutzte Kammern ihres Verstandes verbannt hatten. Hackworth war gerade, so schnell er gehen konnte, auf dem Weg in so ein Viertel. Wenn man direkt aus einem Feeder fälschte, würde es früher oder später auffallen, weil alle Materie-Compiler Informationen zur Source meldeten. Man benötigte seine eigene private Source, unabhängig vom FeederNetz, und das war nur schwer zu bewerkstelligen. Aber ein gerissener Fälscher konnte, mit Genie und Geduld, eine eigene Source konstruieren, die imstande war, eine Auswahl einfacher Bausteine in der Größenordnung von zehn bis einhundert Daltons zu liefern. Es gab eine Menge solcher Leute in Shanghai, und manche waren geduldiger und genialer als andere.
     

Hackworth im Unterschlupf von Dr. X.
    Die Schneide des Skalpells war exakt ein Atom breit; es schnitt durch die Haut von Hackworths Handfläche wie eine Tragfläche, die durch Rauch gleitet. Er schälte einen fingernagelbreiten Streifen ab und reichte ihn Dr. X, der ihn mit Stäbchen aus Elfenbein nahm, in eine exquisite, mit einem chemischen Trockenmittel gefüllte Cloisonneschale tauchte und auf einen kleinen Objektträger aus solidem Diamant legte.
    Der wirkliche Name von Dr. X bestand aus einer Abfolge von Zischlauten, zusammenhanglosen metallischen Summtönen, unirdischen, quasi-deutschen Vokalen und halbverschluckten Rs, bei der sich Leute aus dem Westen unweigerlich verhaspelten. Möglicherweise hatte er sich aus politischen Gründen dagegen entschieden, wie viele Asiaten einen westlichen Kunstnamen anzunehmen, und bestand auf eine etwas herablassende Art statt dessen darauf, daß er Dr. X genannt wurde - nach dem ersten Buchstaben der Pinyinschreibweise seines Namens.
    Dr. X schob den Diamantobjektträger in einen Edelstahlzylinder. An einem Ende befand sich ein teflonbeschichteter, von Löchern durchsetzter Flansch. Dr. X reichte ihn einem seiner Assistenten, der ihn mit beiden Händen trug, als handle es sich um ein goldenes Ei auf einem Seidenkissen, und setzte ihn paßgleich auf einen anderen Flansch auf einem Netz massiver Stahlrohre, das den größten Teil von zwei Tischplatten für sich beanspruchte. Der Assistent des Assistenten bekam die Aufgabe, sämtliche glänzenden Bolzen in die Löcher einzusetzen und zu verschrauben. Dann drückte der Assistent auf einen Schalter, worauf eine altmodische Vakuumpumpe zum Leben erwachte und schätzungsweise eine oder zwei Minuten eine Unterhaltung unmöglich machte. In dieser Zeit sah sich Hackworth im Labor von Dr. X um und versuchte, das Jahrhundert und, wenn möglich, die Dynastie zu erraten, denen jeder Einrichtungsgegenstand entstammte. Auf einem hohen Sims standen eine Reihe von Einmachgläsern, in denen sich in Urin schwimmende Innereien zu befinden schienen. Hackworth vermutete, daß es sich um die Gallenblasen inzwischen ausgestorbener Tierarten handelte, eine sicherere Kapitalanlage als jede Aktie, da ihr Wert von Minute zu Minute stieg. Ein abgeschlossener Gewehrschrank und ein vorsintflutliches, im Lauf der Zeit grün angelaufenes Macintosh Desktop-Publishing-System legten beredtes Zeugnis von früheren Exkursionen des Besitzers in Bereiche offiziell mißbilligten Verhaltens ab. In eine Wand war ein Fenster gehauen worden, hinter dem man einen Lichtschacht sehen konnte, kaum größer als ein Grab, in dem ein verkrüppelter Ahorn wuchs. Davon abgesehen war der Raum so vollgestopft mit kleinen, zahlreichen, braunen, runzligen Gegenständen organischen Aussehens, daß Hackworths Augen es nicht mehr schafften, einen vom anderen zu unterscheiden. Hier und da hatte man Beispiele kalligraphischer Kunstfertigkeit aufgehängt, wahrscheinlich Zitate aus Gedichten. Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den

Weitere Kostenlose Bücher