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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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zu extrahieren. Sie sind selbstverständlich verschlüsselt.«
    Dr. X lächelte zum erstenmal an diesem Tag.
    Dr. X war schon aufgrund seiner Verrufenheit der ideale Mann für diesen Job. Er war das Gegenteil eines Ingenieurs. Er sammelte künstliche Milben wie ein bekloppter viktorianischer Schmetterlingssammler. Er nahm sie Atom für Atom auseinander, um zu sehen, wie sie funktionierten, und wenn er etwas Geniales und Innovatives fand, speicherte er es in seiner Datenbank ab. Da diese Innovationen größtenteils die Folge natürlicher Auslese darstellten, war Dr. X für gewöhnlich der erste Mensch, der davon wußte.
    Hackworth war ein Schöpfer, Dr. X ein Tüftler. Der Unterschied war mindestens so alt wie der digitale Computer. Schöpfer schufen eine neue Technologie und wandten sich dann sofort dem nächsten Projekt zu, erforschten aber stets nur die Ansätze seines Potentials. Tüftler wurden nicht so sehr geachtet, weil sie, technologisch gesehen, stillzustehen schienen, mit Systemen herumspielten, die nicht mehr auf dem neuesten Stand waren und aus ihnen herauskitzelten, was sie hergaben, um Dinge damit anzustellen, die ihre Schöpfer sich nie hätten träumen lassen.
    Dr. X wählte ein Paar abnehmbare Greifarme aus seiner ungewöhnlich großen Sammlung aus. Einige waren dem Design von New Atlantis, Nippon oder Hindustan nachempfunden und kamen Hackworth bekannt vor; bei anderen dagegen handelte es sich um bizarre naturalistische Mechanismen, die von den Immunokülen von New Atlantis abgerissen worden zu sein schienen - Gebilde, die sich mehr auf natürliche Weise entwickelt zu haben schienen, als am Reißbrett entstanden zu sein. Der Doktor benutzte zwei solcher Arme, um die Klette zu packen. Es handelte sich um einen aluminiumbeschichteten Megabuckyball in einem Strahlenkranz spitzer Dornen, die zum Teil mit Fetzen verhackstückter Haut geschmückt waren.
    Unter Anleitung Hackworths drehte er die Klette, bis eine kleine von Dornen freie Stelle sichtbar wurde. Eine kreisförmige, durch ein regelmäßiges Muster von Löchern und Noppen gekennzeichnete Vertiefung war in die Oberfläche der Kugel eingelassen wie eine Andockschleuse an der Seite einer Raumstation. Auf dem Rand des Kontakts stand kreisförmig die Kennung des Herstellers:
    IOANNI HACVIRTUS FECIT.
    Dr. X brauchte keine Erklärung. Es handelte sich um eine Standardschleuse. Wahrscheinlich besaß er ein halbes Dutzend dazu passende Greifer. Er wählte einen aus, rastete die Spitze ein und sprach einen Befehl in shanghainesisch.
    Dann zog er den Aufbau vom Kopf und sah zu, wie sein Assistent ihm noch eine Tasse Tee einschenkte. »Wie lange?« sagte er.
    »Etwa ein Terabyte«, sagte Hackworth. Dies war ein Maß für Speicherkapazität, nicht für Zeit, aber er wußte, daß Dr. X jemand war, der die Zeit würde bestimmen können.
    Die Kugel enthielt ein Maschinen-Phasen-Bandlaufsystem, acht Bänder parallel angeordnet, jedes mit seinem eigenen Schreib/Lesegerät ausgerüstet. Bei den Bändern selbst handelte es sich um Polymerketten, bei denen unterschiedliche Nebengruppen den Einsen und Nullen der Logikmaschinen entsprachen. Es war eine Standardkomponente, daher wußte Dr. X, daß sie auf Befehl etwa eine Milliarde Bytes pro Sekunde ausspucken würde. Hackworth hatte ihm gerade gesagt, daß insgesamt eine Billion Bytes auf den Bändern gespeichert waren und sie tausend Sekunden warten mußten. Dr. X nutzte die Zeit, um, von Assistenten gestützt, den Raum zu verlassen und sich um eines der anderen parallel abgewickelten Geschäfte seines Unternehmens zu kümmern, das in der Umgangssprache als Flohzirkus bezeichnet wurde.

Hackworth verläßt das Labor von Dr. X; weitere Bedenken; ein Gedicht von Finkle-McGraw; eine Begegnung mit Grobianen
    Der Assistent von Dr. X riß die Tür auf und nickte unverschämt. Hackworth setzte seinen Zylinder auf, verließ den Flohzirkus und sah blinzelnd in den Gestank von China hinein: verräuchert wie die Dämpfe von hundert Millionen Kannen Lapsang Souchong, dazwischen der süßliche, bodenständige Geruch von Schweinefett und das Schwefelaroma von gerupften Hühnern und heißem Knoblauch. Er tastete sich mit dem Ende seines Spazierstocks auf dem Kopfsteinpflaster voran, bis sich seine Augen angepaßt hatten. Jetzt war er mehrere tausend Ucus ärmer. Eine stattliche Summe, aber die beste Investition, die ein Vater machen konnte.
    Der Unterschlupf von Dr. X lag in Shanghais der Ming-Dynastie entstammendem Herzen, einer

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