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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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keinerlei Schamgefühl entwickeln. Werden sie jedoch von Tugenden geleitet, welche man ihnen durch Anstandsregeln vermittelt, so werden sie ein Schamgefühl entwickeln und, mehr noch, zu guten Menschen werden .‹«
    »Demnach treten Sie in diesem Fall für Milde ein?« erkundigte sich Miss Pao skeptisch.
    Chang warf ein: »›Mang Wu fragte, was Ehrfurcht vor den Eltern sei. Der Meister antwortete: Eltern sollen Sorge tragen, daß ihre Sprößlinge nicht verderben.‹ Aber der Meister hat nichts von Stockhieben gesagt.«
    Miss Pao sagte: »Der Meister hat auch gesagt: ›Verfaultes Holz kann man nicht schnitzen.‹ Und: ›Nur die weisesten der höchsten Schichten und die dümmsten der untersten Schichten kann man nicht ändern.‹«
    »Die Frage ist also: Ist der Junge verfaultes Holz? Sein Vater war es ganz eindeutig. Bei dem Jungen bin ich mir nicht so sicher.«
    »Bei allem gebührenden Respekt möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen lenken«, sagte Chang. »Sie sollte das eigentliche Thema unserer Diskussion sein. Der Junge mag verloren sein; das Mädchen können wir retten.«
    »Wer wird sie retten?« fragte Miss Pao. »Wir besitzen die Macht zu bestrafen, nicht aber die Macht, Kinder zu erziehen.«
    »Das ist das grundsätzliche Dilemma meiner Position«, sagte Richter Fang. »Der Mao-Dynastie fehlte es an einem echten System der Rechtsprechung. Mit dem Aufstieg der Küstenrepublik wurde ein System der Rechtsprechung nach dem einzigen Vorbild geschaffen, welches das Mittlere Königreich je gekannt hatte, nämlich das des Konfuzianismus. Aber dieses System kann in einer größeren Gesellschaft, die sich nicht an die Lehren des Konfuzius hält, nicht funktionieren. ›Vom Sohn des Himmels bis zur Masse des Volkes müssen alle die Kultivierung der eigenen Person als Wurzel aller Dinge betrachten.‹ Doch wie soll ich die Persönlichkeit der Barbaren kultivieren, für die man mir perverserweise die Verantwortung übertragen hat?«
    Chang hatte nur auf diese Gelegenheit gewartet und nutzte sie weidlich aus. »Der Meister hat in seiner Großen Unterweisung gesagt, daß die Erweiterung des Wissens die Wurzel aller anderen Tugenden sei.«
    »Ich kann den Jungen nicht zur Schule schicken, Chang.«
    »Denken Sie statt dessen an das Mädchen«, sagte Chang, »an das Mädchen und ihr Buch.«
    Richter Fang dachte eine Zeitlang darüber nach, obschon er sehen konnte, daß Miss Pao etwas Dringendes auf dem Herzen hatte.
    »›Der Überlegene ist mit Recht streng, freilich nicht nur streng‹«, sagte Richter Fang. »Da das Opfer sich nicht mit der Polizei in Verbindung gesetzt und die Wiederbeschaffung seines Eigentums verlangt hat, werde ich gestatten, daß das Mädchen das Buch behalten darf, um sich weiterzubilden – wie der Meister sagte: ›Beim Unterrichten sollten keinerlei Klassenunterschiede gelten.‹ Den Jungen werde ich zu sechs Stockhieben verurteilen. Jedoch werde ich alle Schläge, bis auf den ersten, zur Bewährung aussetzen, da er erste Ansätze brüderlicher Verantwortung gezeigt hat, indem er dem Mädchen das Buch gab. Das ist angemessen streng.«
    »Ich habe eine phänomenoskopische Analyse des Buches abgeschlossen«, sagte Miss Pao. »Es ist kein gewöhnliches Buch.«
    »Ich hatte schon vermutet, daß es sich um eine Art Raktiv handelt«, sagte Richter Fang.
    »Es ist weitaus höher entwickelt, als diese Beschreibung vermuten läßt. Ich vermute, es könnte heiße PI enthalten.«
    »Glauben Sie, dieses Buch enthält gestohlene Technologie?«
    »Das Opfer arbeitet in der Abteilung Sonderprojekte von Maschine-Phase Systems. Er ist ein Artifex.«
    »Interessant«, sagte Richter Fang.»Würde sich eine weitere Untersuchung lohnen?«Richter Fang dachte einen Moment darüber nach, während er sich die Finger gründlich an einer frischen Serviette abwischte »Unbedingt«, sagte er.
     

Hackworth überreicht Lord Finkle-McGraw die Fibel.
    »Entsprechen der Einband und dergleichen Ihren Vorstellungen?« sagte Hackworth.
    »O ja«, sagte Lord Finkle-McGraw. »Wenn ich es mit Staub bedeckt in einem Antiquariat sehen würde, würde ich keinen zweiten Blick darauf werden.«
    »Denn wenn Sie mit irgendwelchen Einzelheiten nicht zufrieden sind«, sagte Hackworth, »könnte ich es neu kompilieren.« Er war von der verzweifelten Hoffnung beseelt hergekommen, Finkle-McGraw könnte irgendwelche Einwände haben; damit hätte er die Möglichkeit bekommen, Fiona eine zweite Kopie zu ziehen. Aber bis jetzt war der

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