Diamond Age - Die Grenzwelt
verständlich machen.
»Das Alter war nicht gnädig zu mir«, sagte Chang. Er war sechsunddreißig.
»Die Mittagsstunde ist verstrichen«, sagte Richter Fang. »Vertagen wir die Sitzung und holen uns eine Portion Kentucky Fried Chicken.«
»Wie Sie wünschen, Richter Fang«, sagte Chang.
»Wie Sie wünschen, Richter Fang«, sagte Miss Pao.
Richter Fang fuhr in englisch fort. »Dein Fall ist sehr ernst«, sagte er zu dem Jungen. »Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Du bleibst hier, bis wir zurückkehren.«
»Ja, Sir«, sagte der Angeklagte, der offensichtlich Todesängste ausstand. Und es war nicht die abstrakte Furcht eines Ersttäters; der Junge schwitzte und schlotterte. Er hatte den Stock schon zu schmecken bekommen.
Wenn sie Chinesisch sprachen, redeten sie stets vom Haus des Ehrwürdigen und Unergründlichen Oberst. Ehrwürdig wegen seines Ziegenbärtchens, das weiß wie eine Hartriegelblüte war, der Lehre des Konfuzius zufolge ein unfehlbares Zeichen unzweifelhafter Glaubwürdigkeit. Unergründlich, weil er das Geheimnis der elf Kräuter und Gewürze mit ins Grab genommen hatte. Es war die erste Schnellimbißkette gewesen, die viele Jahrzehnte zuvor am Bund eröffnet hatte. Für Richter Fang war ein abgeschiedener Tisch in der Ecke reserviert. Einst hatte er Chang in den Zustand der Katalepsie versetzt, indem er ihm eine Straße in Brooklyn beschrieb, wo sich meilenweit Imbißrestaurants mit Brathühnchen erstreckten, samt und sonders Nachahmer von Kentucky Fried Chicken. Miss Pao, die in Austin, Texas, aufgewachsen war, ließ sich von derlei Legenden nicht so leicht beeindrucken.
Die Kunde ihres Eintreffens eilte ihnen voraus; ihr Kübel stand bereits auf dem Tisch. Die kleinen Plastiktassen mit Sauce, Krautsalat, Kartoffeln und so weiter waren fein säuberlich angeordnet. Wie üblich stand der Kübel direkt vor Changs Sitz, da er den größten Teil des Inhalts verzehren würde. Sie aßen ein paar Minuten schweigend, derweil sie durch Blickkontakt und auf andere subtile Weise miteinander kommunizierten, danach ergingen sie sich einige Minuten in höflichem, förmlichem Geplauder.
»Etwas hat eine Erinnerung in mir wachgerufen«, sagte Richter Fang, als der richtige Zeitpunkt gekommen war, über geschäftliche Dinge zu reden. »Der Name Tequila – die Mutter des Verdächtigen und des kleinen Mädchens.«
»Der Name wurde zweimal vor unserem Gericht genannt«, sagte Miss Pao und frischte die Erinnerung an die beiden vorangegangenen Fälle auf: Vor fast fünf Jahren war der damalige Liebhaber der Frau hingerichtet worden; der zweite Fall, vor wenigen Monaten, wies gewisse Parallelen zu dem heutigen auf.
»Ah, ja«, sagte Richter Fang. »An den zweiten Fall erinnere ich mich. Der Junge und seine Freunde haben einen Mann übel zusammengeschlagen. Aber nichts wurde gestohlen. Er rechtfertigte sein Handeln nicht. Ich habe ihn zu drei Stockhieben verurteilt und freigelassen.«
»Es besteht Grund zu der Annahme, daß das damalige Opfer die Schwester des Jungen mißbraucht hat«, warf Chang ein, »da der Mann über ein einschlägiges Vorstrafenregister verfügte.«
Richter Chang fischte einen Unterschenkel aus dem Kübel, arrangierte ihn auf der Serviette, faltete die Hände und seufzte. »Besitzt der Junge irgendwelche kindlichen Bezugspersonen?«
»Keine«, sagte Miss Pao.
»Würde mir jemand einen Rat geben?« Richter Fang stellte diese Frage häufig; er betrachtete es als seine Pflicht, seine Untergebenen zu unterrichten.
Miss Pao ergriff mit genau dem richtigen Grad von Zurückhaltung das Wort. »Der Meister sagt: ›Die Überzeugung des Überlegenen ist dem Radikalen zugeneigt. Ist dies geschehen, ergibt sich alles Weitere ganz natürlich. Ehrfurcht vor den Eltern und geschwisterliche Liebe! – sind sie nicht die Wurzel allen gütigen Tuns?‹«
»Wie würden Sie die Weisheit des Meisters in diesem Fall interpretieren?«
»Der Junge hat keinen Vater – seine einzige mögliche Bezugsperson wäre der Staat. Sie, Richter Fang, sind der einzige Repräsentant des Staates, mit dem er aller Wahrscheinlichkeit nach je Kontakt haben wird. Es ist Ihre Pflicht, den Jungen streng zu bestrafen -beispielsweise mit sechs Stockhieben. Das wird dazu beitragen, seine Ehrfurcht vor den Eltern zu stärken.«
»Doch der Meister sagt auch: ›Wenn die Menschen von Gesetzen geleitet werden und der Gehorsam ihnen durch Strafe beigebracht werden soll, so werden sie versuchen, die Strafe zu umgehen, aber
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