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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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einem uralten und eigentümlichen Geschmack, etwa auf einer Stufe mit dem Genuß gregorianischer Choräle, und es zahlte sich nicht aus. Die Raktiven dagegen, die zahlten sich aus.
    Das Gebäude war hoch und schmal und nutzte den sündhaft teuren Baugrund Shanghais optimal aus, weswegen das Proszenium einen fast quadratischen Grundriß hatte wie ein altmodischer Fernseher. Darüber war die Büste einer vergessenen französischen Schauspielerin angebracht, von goldenen Flügeln getragen und von Engeln mit Fanfaren und Lorbeerkränzen flankiert. Ein kreisrundes Fresko, das in durchscheinende Gewänder gehüllte Musen zeigte, schmückte die Decke. In der Mitte hing ein Lüster; seine grellen Glühbirnen waren durch Neuentwicklungen ersetzt worden, die nicht ausbrannten, und nun warf er sein Licht gleichmäßig auf die Reihen winziger, quietschender Sitze, die dicht gedrängt den Hauptsaal durchzogen. Es gab drei Emporen und drei Geschosse mit Privatlogen, zwei auf der rechten und zwei auf der linken Seite jeder Etage. Die Balustraden der Emporen und Logen waren allesamt mit Szenen aus der klassischen Mythologie geschmückt, wobei die vorherrschende Farbe allerorten aus einem hellen Blauton bestand, der Farbe von Rotkehlcheneiern. Das ganze Theater war mit Stuck überfrachtet, so daß die Gesichter von Cherubim, überreizten römischen Göttern, leidenschaftlichen Trojanern und dergleichen allerorten aus Säulen und Laibungen und Gesimsen hervorstanden und einen überraschten. Einen Großteil dieser Arbeiten hatten Kugeln verunstaltet, die zu Zeiten der Kulturrevolution von enthusiastischen Rotgardisten abgefeuert worden waren. Abgesehen von den Einschußlöchern befand sich das Parnasse in einem passablen Zustand, obschon irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert dicke Eisenstäbe vertikal vor den Logen und horizontal vor den Baikonen verankert worden waren, damit man Scheinwerfer daran befestigen konnte. Heutzutage bestanden diese Scheinwerfer aus Scheiben, nicht größer als Münzen, die man überall befestigen und über Funk kontrollieren konnte. Doch die Stäbe waren immer noch da und machten jedesmal, wenn Touristen zu Besuch kamen, umständliche Erklärungen nötig.
    Jede der zwölf Logen hatte eine eigene Tür und eine Vorhangschiene über der Balustrade, damit die Besucher zwischen den Akten einigermaßen ungestört blieben. Sie hatten die Vorhänge eingemottet und durch bewegliche, schalldichte Schirme ersetzt, sowie die Stühle abgeschraubt und im Keller eingelagert. Jetzt barg jede Loge einen eiförmigen Raum, gerade groß genug für eine Körperbühne. Mit diesen zwölf Bühnen wurden fünfundsiebzig Prozent vom Umsatz des Theatre Parnasse bestritten.
    Miranda betrat ihre Bühne stets eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn und führte einen Check ihres Tätgitters durch. Die 'siten hielten nicht ewig – statische Elektrizität oder kosmische Strahlung konnten sie außer Gefecht setzen, und wenn man sein Instrument aus reiner Nachlässigkeit verwahrlosen ließ, verdiente man es nicht, sich Raktrice nennen zu dürfen.
    Miranda hatte die toten Wände ihrer eigenen Bühne mit Plakaten und Photos von Vorbildern geschmückt – größtenteils Schauspielerinnen aus Passiven des zwanzigsten Jahrhunderts. In einer Ecke hatte sie einen Stuhl stehen, falls die Rolle erforderlich machte, daß sie sich setzte. Daneben gab es einen kleinen Beistelltisch, auf dem sie ihre triple hatte, eine Zweiliterflasche Mineralwasser und eine Packung Halspastillen ablegte. Dann entkleidete sie sich bis auf ein schwarzes Trikot und hautenge Hosen und hängte ihre Straßenkleidung an einem Kleiderständer neben der Tür auf. Eine andere Raktrice wäre vielleicht nackt gegangen, hätte Straßenkleidung getragen oder versucht, ihr Kostüm der Rolle anzupassen, falls sie das Glück hatte und im voraus wußte, was sie spielen würde. Zur Zeit wußte Miranda das freilich nie. Zu ihrem Standardrepertoire gehörten Kate in der raktiven Version von
Der Widerspenstigen Zähmung
(eine grobschlächtige Schmiere, aber bei gewissen männlichen Anwendern äußerst beliebt); Scarlett O'Hara in der raktiven Version von
Vom Winde verweht;
eine Doppelagentin namens Ilse in einem Spionagethriller, der in einem durch Nazideutschland fahrenden Zug spielte; und Rhea, ein neoviktorianisches Fräulein in Bedrängnis in
Die Seidenstraße,
einer romantischen Actionkomödie, die auf der falschen Seite des zeitgenössischen Shanghai spielte. Diese Rolle hatte sie

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