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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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selbst geschaffen. Nach enthusiastischen Kritiken (»ein bemerkenswert realistisches Porträt, das die Newcomerin Miranda Redpath hier abliefert!«) hatte sie zwei Monate lang fast nichts anderes gespielt, obwohl ihre Gage so drastisch war, daß sich die meisten Anwender für eine der Vorstudien entschieden oder sich damit begnügten, für ein Zehntel der Summe passiv zuzuschauen. Aber der Verleih hatte die Werbung verpfuscht, als sie versuchten, das Stück über die Grenzen Shanghais hinaus durchzusetzen, und so war
Die Seidenstraße
momentan auf Eis gelegt worden, während verschiedene Köpfe rollten.
    Mehr als vier Hauptrollen konnte sie kaum gleichzeitig im Kopf behalten. Der Prompter ermöglichte es, jede Rolle zu spielen, ohne sie vorher gesehen zu haben, wenn es einen nicht störte, sich zum Trottel zu machen. Aber Miranda hatte sich einen Ruf erkämpft und konnte sich schlampige Arbeit nicht mehr leisten. Um Leerlauf zu vermeiden, wenn das Geschäft träge ging, hatte sie, unter Pseudonym, noch ein Standardrepertoire einfacherer Arbeiten: überwiegend erzählende Rollen, sowie alles, was mit Medien für Kinder zu tun hatte. Sie hatte keine eigenen Kinder, unterhielt aber noch regen Briefwechsel mit allen, die sie in ihrer Zeit als Gouvernante betreut hatte. Es gefiel ihr, mit Kindern zu ragieren, und außerdem war es eine gute Stimmübung, diese albernen kleinen Reime genau richtig aufzusagen.
    »Üben wir Kate aus der
Widerspenstigen«,
sagte sie, worauf das mirandaförmige Sternbild von einer dunkelhaarigen Frau mit grünen Katzenaugen in einem Kleid ersetzt wurde, das die Vorstellung des Kostümbildners widerspiegelte, was eine reiche Frau im Italien der Renaissance wahrscheinlich getragen haben könnte. Miranda hatte große Häschenaugen, Kate dagegen Katzenaugen, und Katzenaugen wurden anders eingesetzt als Häschenaugen, besonders wenn man eine geistreiche, beißend sarkastische Erwiderung zu machen hatte. Carl Hollywood, Gründer und Dramaturg des Ensembles, der sich ihre
Widerspenstige
passiv angesehen hatte, hatte ihr den Vorschlag gemacht, daß sie gerade in diesem Bereich noch an sich arbeiten sollte. Nicht viele Zuschauer genossen Shakespeare oder hatten auch nur eine Ahnung, wer er war, aber diejenigen, die sich dafür interessierten, gehörten für gewöhnlich den gehobenen Einkommensschichten an, und darum lohnte es sich, ihnen zu schmeicheln. Normalerweise war Miranda derartigen Argumenten nicht zugänglich, aber sie hatte festgestellt, daß einige dieser (reichen, sexistischen, versnobten arschgesichtigen) Gentlemen erstaunlich gute Rakteure waren. Und jede professionelle Schauspielerin konnte einem sagen, daß es ein seltenes Vergnügen war, mit einem zahlenden Kunden zu ragieren, der wußte, was er tat.
     
    Die Schicht umfaßte die beste Sendezeit für London, die Ostküste und die Westküste. In Greenwich-Zeit begann sie gegen einundzwanzig Uhr, wenn die Londoner mit dem Dinner fertig waren und Unterhaltung suchten, und dauerte bis gegen sieben Uhr morgens, wenn sie in Kalifornien zu Bett gingen. Alle Rakteure versuchten, in dieser Zeitspanne zu arbeiten, ganz gleich, in welchen Zeitzonen sie selbst lebten. In der Zeitzone von Shanghai entsprach die Schicht der Zeit von etwa fünf Uhr morgens bis zum frühen Nachmittag, aber Miranda hatte nichts gegen Überstunden einzuwenden, wenn ein reicher Kalifornier einen Raktiven bis spät in die Nacht ausdehnen wollte. Einige Rakteure ihres Ensembles kamen erst im Lauf des Tages, aber Miranda hegte immer noch Träume, in London zu leben und lechzte nach der Aufmerksamkeit der gebildeten zahlenden Kunden dieser Stadt. Sie kam stets früher zur Arbeit.
    Als sie mit ihren täglichen Aufwärmübungen fertig war, stellte sie fest, daß bereits ein Engagement auf sie wartete. Der Casting-Agent, eine semiautonome Software, hatte eine Gruppe von neun zahlenden Kunden zusammengetrommelt, die ausreichten, alle Gastrollen in
Erste Klasse nach Genf
zu ragieren, das von den Intrigen unter reichen Leuten an Bord eines Zuges in Nazideutschland erzählte und für das raktive Theater denselben Stellenwert besaß wie
Die Mausefalle
für das passive. Es handelte sich um ein Stück für Ensemble: neun Gastrollen wurden von zahlenden Kunden besetzt, drei größere und glamourösere Stammrollen von Bezahlten wie Miranda. Eine der Personen war, was die anderen nicht wußten, ein Spion der Alliierten. Ein anderer war ein verkleideter Obersturmbannführer der SS, einer

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