Diamond Age - Die Grenzwelt
war Jude, ein anderer Agent der Tscheka. Manchmal gab es einen Deutschen, der versuchte, zu den Alliierten überzulaufen. Aber wenn das Raktive anfing, wußte man nie, wer wer war; der Computer verteilte die Rollen nach dem Zufallsprinzip.
Aufgrund der hohen Relation zwischen zahlenden und bezahlten Rakteuren war die Gage nicht schlecht. Miranda akzeptierte das Engagement einstweilig. Eine der Stammrollen war noch nicht besetzt, daher riskierte sie während der Wartezeit einen Versuch und bekam ein Engagement als Lückenfüller. Der Computer morphte sie in das Gesicht einer anbetungwürdigen jungen Frau, deren Antlitz und Frisur dem entsprachen, was derzeit in London als der letzte Schrei galt; sie trug die Uniform einer Ticketverkäuferin von British Airways. »Guten Abend, Mr. Oremland«, las sie schwärmerisch plappernd vom Prompter ab. Der Computer wandelte es in eine noch piepsigere Stimme um und nahm behutsame Änderungen an ihrem Akzent vor.
»Guten Abend, ähem, Margaret«, sagte der feiste Brite, der aus einem Quadranten ihres Mediatrons sah. Er trug eine Halbbrille und mußte die Augen zusammenkneifen, damit er ihr Namensschild lesen konnte. Seine Krawatte lag ihm lose auf der Brust, er hielt einen Gin Tonic in einer haarigen Hand, und das Aussehen dieser Margaret schien ihm zu gefallen. Was man fast voraussetzen konnte, da Margaret von einem Marketingcomputer in London gemorpht worden war, der mehr über den Geschmack dieses Gentlemans wußte, was Mädchenfleisch betraf, als dem Mann lieb sein konnte.
»Sechs Monate ohne Urlaub!? Wie langweilig«, sagte Miranda/ Margaret. »Sie müssen einen schrecklich wichtigen Posten haben«, fuhr sie fort, anzüglich, aber nicht gemein, als handele es sich um einen kleinen Scherz unter Freunden.
»Ja, ich schätze, nach einer Weile wird es sogar langweilig, jede Menge Geld zu verdienen«, entgegnete der Mann im selben Tonfall.
Miranda warf einen Blick auf die Besetzungsliste von
Erster Klasse nach Genf.
Sie wäre stinksauer, wenn Mr. Oremland zu redselig wurde und sie zwang, die größere Rolle sausenzulassen. Obschon er ein hinreichend kluger Bursche zu sein schien. »Wissen Sie, es ist eine prima Zeit, um Atlantis/Westafrika zu besuchen, und das Luftschiff
Goldküste
soll in zwei Wochen auslaufen – soll ich Ihnen eine Kabine buchen? Und möglicherweise eine Gefährtin?«
Mr. Oremland schien etepetete zu sein. »Sagen Sie ruhig, daß ich altmodisch bin«, sagte er, »aber bei Afrika denke ich immer an Aids und Ungeziefer.«
»Aber doch nicht Westafrika, Sir, nicht in den neuen Kolonien. Möchten Sie gerne eine Kurzübersicht?«
Mr. Oremland bedachte Miranda/Margaret mit einem langen, fragenden und geilen Blick, seufzte, sah auf die Uhr und schien sich zu besinnen, daß er mit einem imaginären Wesen sprach. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er und schaltete ab.
Und gerade rechtzeitig; das Ensemble für
Genf
war soeben vervollständigt worden. Miranda blieben nur wenige Sekunden, den Hintergrund zu wechseln und sich in die Figur der Ilse hineinzuversetzen, da saß sie auch schon im Erste-Klasse-Abteil eines Passagierzugs des zwanzigsten Jahrhunderts und sah eine blonde, blauäugige Schneekönigin mit hohen Wangenknochen vor sich. Vor ihr auf dem Frisiertisch lag ein in jiddisch verfaßter Brief.
Also war sie heute abend die Jüdin... Sie zerriß den Brief in kleine Schnipsel und warf sie zum Fenster hinaus, dann machte sie dasselbe mit einigen Davidssternen, die sie aus ihrem Schmuckkästchen kramte. Dieses Ding war uneingeschränkt raktiv, daher konnte nichts die anderen Personen daran hindern, in ihr Abteil einzubrechen und ihre Habseligkeiten zu durchsuchen. Dann trug sie ihr Make-up zu Ende auf, wählte ihre Garderobe aus und ging zum Dinner in den Speisewagen. Die meisten anderen Personen waren schon da. Die neun Amateure steif und gespreizt wie immer, die beiden anderen Profis beschäftigten sich abwechselnd mit ihnen und versuchten, sie zu entkrampfen, ihre Unsicherheit zu überwinden und sie dazu zu bringen, sich ihren Rollen gemäß zu benehmen.
Schließlich zog sich
Genf
geschlagene drei Stunden hin. Es wurde um ein Haar von einem der zahlenden Kunden ruiniert, der sich offenbar einzig und allein zu dem Zweck eingebucht hatte, Ilse ins Bett zu bekommen. Er entpuppte sich obendrein als der heimliche SS-Obersturmbannführer; war aber so darauf fixiert, Ilse zu ficken, daß er sich den ganzen Abend rollenwidrig benahm. Schließlich lockte Miranda ihn
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