Diamond Age - Die Grenzwelt
- Buddhas bösem Zwillingsbruder - im vergangenen Jahrhundert. Hackworth hatte sich nie die Zeit genommen, ihn von Anfang bis Ende anzusehen, doch er hatte ihn so häufig in Taxis in Pudong und in den Leasing-Parzellen an den Wänden gesehen, daß er ihn auswendig kannte. Westler nannten ihn
Zhang im Schang.
Die Szene spielte vor einem Luxushotel, einem aus dem Archipel von Shangri-Las, die den Superhighway Kowloon-Guangzhou säumten. Die hufeisenförmige Einfahrt war mit Mosaiksteinen gepflastert, allerorten glänzten Messingtürgriffe, tropische Blumen wuchsen dichtgedrängt aus bootsgroßen Schalen in der Halle, Geschäftsmänner in Anzügen sprachen in Handys und schauten auf die Uhr; Pagen mit weißen Handschuhen sprangen auf die Einfahrt, holten Koffer aus den Kofferräumen roter Taxis und wischten sie mit sauberen feuchten Tüchern ab.
Die Einfahrt lag an einer achtspurigen Durchgangsstraße - nicht der Highway, lediglich eine Zufahrt –, und ein schmiedeeiserner Zaun mit scharfen Spitzen verlief in der Mitte, damit Fußgänger sie nicht zwischendrin überquerten. Das Pflaster, neu, aber bereits von Verfall gezeichnet, war von rötlichem Staub überzogen, den der letzte Taifun von den verkarsteten Bergen von Guangdong heruntergespült hatte.
Plötzlich wurde der Verkehr dünner, und die Kamera schwenkte stromaufwärts: Zahlreiche Fahrspuren wurden von einer Schar Fahrradfahrer blockiert. Ab und an drängten sich ein rotes Taxi oder ein Mercedes-Benz an dem schmiedeeisernen Zaun vorbei und fuhr davon, während der Fahrer so wütend auf die Hupe einschlug, daß man befürchten mußte, der Airbag würde herausschnellen. Hackworth konnte den Lärm der Hupen nicht hören, aber als die Kamera auf das Geschehen zoomte, sah man deutlich, wie ein Fahrer die Hand von der Hupe nahm, sich umdrehte und der Schar der Radfahrer den Finger zeigte.
Als er sah, wer die Schar anführte, wandte er sich krank vor Angst ab, und seine Hand fiel ihm wie eine tote Schnepfe in den Schoß.
Bei dem Anführer handelte es sich um einen untersetzten Mann mit weißem Haar, über sechzig, in einem schmucklosen Arbeiterblaumann, der in die Pedale trat, was das Zeug hielt. Er radelte mit trügerischer Geschwindigkeit die Straße hinab und bog in die Einfahrt ein. Eine Embolie von Fahrradfahrern bildete sich an der Straße, als Hunderte versuchten, sich durch den schmalen Eingang zu drängen. Und dann kam ein weiterer klassischer Moment: Der Chefpage lief um seinen Tisch herum, rannte auf den Fahrradfahrer zu und schleuderte ihm Verwünschungen in kantonesisch entgegen – bis er noch etwa sechs Schritte entfernt stand und merkte, daß er sich Zhang Han Hua gegenübersah.
Zu dieser Zeit besaß Zhang keine Berufsbezeichnung, da er nominell im Ruhestand war – ein ironischer Einfall, den die chinesischen Premiers des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts wahrscheinlich von amerikanischen Mafiabossen übernommen hatten. Möglicherweise sahen sie auch ein, daß eine Berufsbezeichnung unter der Würde des mächtigsten Mannes auf Erden war. Menschen, die Zhang so nahe gekommen waren, sagten stets einhellig, daß sie nie an seine derzeitige Macht dachten - die Armeen, die Kernwaffen, die Geheimpolizei. Sie konnten nur daran denken, daß Zhang Han Hua zur Zeit der großen Kulturrevolution, im Alter von achtzehn Jahren, seine Zelle der Rotgardisten in den Kampf Mann gegen Mann mit einer anderen Zelle geführt hatte, deren Begeisterung sie für unzureichend hielten, und daß Zhang nach gewonnener Schlacht sich am rohen Fleisch seiner gefallenen Widersacher gütlich getan hatte. Niemand konnte Zhang von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ohne sich vorzustellen, wie ihm das Blut am Kinn hinablief.
Der Hotelpage sinkt auf die Knie und macht buchstäblich einen Kotau. Zhang schaut angewidert drein, schiebt dem Pagen einen sandalenbekleideten Fuß unter das Schlüsselbein und drückte ihn wieder in die Höhe, dann sagt er ein paar Worte im Hinterwäldlerakzent seines heimischen Fujien zu ihm. Der Page kann sich auf seinem Rückweg ins Hotel gar nicht genug verbeugen; Zhangs Gesicht drückt Mißvergnügen aus - er möchte nur möglichst schnell bedient werden. Im Verlauf der nächsten Minute strömen zunehmend hochrangigere Hotelangestellte zur Tür heraus und erniedrigen sich vor Zhang, der mittlerweile gelangweilt aussieht und sie mit völliger Mißachtung straft. Niemand weiß genau, ob Zhang an diesem Punkt seines
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