Diamond Age - Die Grenzwelt
eine Art Tunnel zwischen Hackworth und dem Richter bildeten.
Hackworths erster Anfall von Todesangst war abgeklungen. Inzwischen verspürte er eine morbide Faszination angesichts der unvorstellbar gräßlichen Situation und des grandiosen Spektakels, das Dr. X eigens dafür inszeniert hatte. Er kniete stumm nieder und wartete in einem hyperentspannten Zustand der Fassungslosigkeit wie ein Frosch auf dem Seziertisch.
Formalitäten wurden erledigt. Der Richter hieß Fang und kam offenbar aus New York. Die Anklage wurde wiederholt, etwas ausführlicher formuliert. Die Frau trat nach vorne und legte die Beweise vor: eine Cine-Aufzeichnung, die auf einem großen Mediatron an der Rückwand der Bühne abgespielt wurde. Es handelte sich um eine Filmaufnahme des Angeklagten, John Percival Hackworth, der sich ein Stück Haut von der Hand schnitt und es (dem unschuldigen) Dr. X gab, der (ohne zu ahnen, daß er dazu verleitet wurde, einen Diebstahl zu begehen) ein Tetrabyte heiße Daten aus einer klettenförmigen Milbe extrahierte, und so weiter, und so weiter.
»Bleibt nur noch zu beweisen, daß die Informationen tatsächlich gestohlen waren - was das Verhalten des Verdächtigen allerdings nahelegt«, sagte Richter Fang. Um diese Vermutung zu erhärten, trat Constable Chang nach vorne und berichtete von seinem Besuch in Hackworths Haus.
»Mr. Hackworth«, sagte Richter Fang, »möchten Sie bestreiten, daß dieses Eigentum gestohlen war? In diesem Falle werden wir Sie in Gewahrsam behalten, während eine Kopie der Informationen an die Polizei Ihrer Majestät weitergeleitet wird; dort wird man sich mit Ihrem Arbeitgeber in Verbindung setzen, um zu eruieren, ob Sie etwas Unehrenhaftes getan haben. Möchten Sie, daß wir das tun?«
»Nein, Euer Ehren«, sagte Hackworth.
»Demnach bestreiten Sie nicht, daß das Eigentum gestohlen war und Sie einen Bürger des Himmlischen Königreichs angestiftet haben, Ihnen bei Ihren kriminellen Aktivitäten dienlich zu sein?«
»Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage, Euer Ehren«, sagte Hackworth, »und unterwerfe mich der Barmherzigkeit des Gerichts.«
»Ausgezeichnet«, sagte Richter Fang, »der Angeklagte ist schuldig. Als Strafmaß werden sechzehn Stockhiebe und zehn Jahre Gefängnis festgesetzt.«
»Barmherziger Gott!« murmelte Hackwort. So unzureichend das war, es war alles, was ihm einfiel.
»Was die Stockhiebe betrifft, so werde ich alle bis auf einen zur Bewährung aussetzen, da der Angeklagte aus väterlichem Verantwortungsgefühl für seine Tochter gehandelt hat – unter einer Bedingung.«
»Euer Ehren, ich werde jede Bedingung akzeptieren, die Sie zu stellen belieben.«
»Sie werden Dr. X den Dechiffrierschlüssel für die fraglichen Daten übergeben, damit weitere Exemplare den kleinen Kindern zur Verfügung gestellt werden können, von denen unsere Waisenhäuser voll sind.«
»Das will ich mit Freuden tun«, sagte Hackworth, »doch gibt es Komplikationen.«
»Ich warte«, sagte Richter Fang, der nicht eben erfreut klang. Hackworth gewann den Eindruck, daß die Sache mit den Stockhieben und der Fibel lediglich das Vorspiel für etwas Größeres darstellte und der Richter es hinter sich bringen wollte.
»Damit ich abschätzen kann, wie schwerwiegend diese Komplikationen sich gestalten mögen«, sagte Hackworth, »müßte ich wissen, wie viele Exemplare Euer Ehren ungefähr herstellen lassen wollen.«
»In der Größenordnung von einigen Hunderttausend.«
Hunderttausende!
»Ich bitte um Vergebung, aber sind sich Euer Ehren darüber im klaren, daß das Buch für Mädchen etwa im Alter von vier Jahren konzipiert wurde?« »Ja.«
Hackworth war fassungslos. Einige hunderttausend Kinder beiderlei Geschlechts und jeder Altersstufe wäre nicht schwer zu glauben gewesen. Einige hunderttausend vierjährige Mädchen dagegen, das schien unvorstellbar. Nur tausend wäre schon enorm gewesen. Aber schließlich befanden sie sich in China. »Das Gericht wartet«, sagte Constable Chang. »Ich muß Euer Ehren daraufhinweisen, daß es sich bei der Fibel weitgehend um ein Raktiv handelt – was bedeutet, sie ist auf die Teilnahme erwachsender Rakteure angewiesen. Eine oder zwei zusätzliche Exemplare würden vielleicht unbemerkt bleiben, aber eine große Zahl würde das eingebaute System zur Vergütung dieser Dienste überlasten.«
»Dann wird es Ihre Aufgabe sein, Modifizierungen an der Fibel vorzunehmen, damit sie auf unsere Anforderungen zugeschnitten wird - wir können auf
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