Diamond Age - Die Grenzwelt
sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als hätte er sich gerade auf ein Geschäft eingelassen, dessen Bedingungen noch nicht verhandelt, noch nicht einmal ausformuliert worden waren. Doch Dr. X' ganzes Gebaren schien die Botschaft zu verkünden, wenn man schon einen Faustischen Pakt mit einem uralten und undurchsichtigen Boß des organisierten Verbrechens in Shanghai abschloß, dann konnte man sich keinen Besseren als den onkelhaften Dr. X dafür wünschen, dessen Großzügigkeit so grenzenlos war, daß er die ganze Sache höchstwahrscheinlich vergessen oder die Gefälligkeit in einem vergilbten Karton in einem seiner Lagerhäuser verschimmeln lassen würde. Am Ende des ausgiebigen Menüs fühlte sich Hackworth so beruhigt, daß er Lieutenant Chang und die Fibel fast vollkommen vergessen hatte.
Das heißt, bis zu dem Augenblick, als die Schiebetür erneut aufglitt und besagter Lieutenant Chang persönlich eintrat.
Hackworth erkannte ihn nicht gleich, da er weitaus konservativer gekleidet war als sonst: weite indigofarbene Pluderhosen, Sandalen und ein schwarzer Lederhelm, der etwa fünfundsiebzig Prozent seines klobigen Kopfes verbarg. Außerdem hatte er sich den Schnurrbart wachsen lassen. Und, am beunruhigendsten, an seinem Gürtel hing eine Scheide, und in dieser Scheide steckte ein Schwert.
Er betrat den Raum, verbeugte sich beiläufig vor Dr. X und wandte sich dann Hackworth zu.
»Lieutenant Chang?« fragte Hackworth kläglich.
»Constable Chang«, sagte der Neuankömmling, »vom Bezirksgericht Shanghai.« Danach sprach er das chinesische Wort für Mittleres Königreich aus.
»Ich dachte, Sie arbeiten für die Küstenrepublik.«
»Ich bin meinem Herrn und Meister in ein neues Land gefolgt«, sagte Constable Chang. »Zu meinem Bedauern muß ich Sie jetzt festnehmen, John Percival Hackworth.«
»Was wirft man mir vor?« sagte Hackworth und zwang sich zu einem Kichern, als wäre dies nichts weiter als ein großer Streich unter engen Freunden.«
»Daß Sie am --. --. 21- gestohlenes geistiges Eigentum in das Himmlische Königreich - genauer gesagt, in die Behausung von Dr. X - gebracht und dieses Eigentum benutzt haben, um die illegale Kopie eines gewissen Gegenstands zu kompilieren, der als
Illustrierte Fibel für die junge Dame
bekannt ist.«
Es hatte keinen Zweck, das zu bestreiten. »Aber ich bin heute abend hierhergekommen, um wieder in den Besitz besagten Gegenstands zu gelangen«, sagte Hackworth, »der sich in den Händen meines ehrwürdigen Gastgebers hier befindet. Ganz gewiß haben Sie nicht die Absicht, den ehrwürdigen Dr. X zu verhaften, weil er mit gestohlenem Eigentum handelt.«
Constable Chang sah erwartungsvoll zu Dr. X. Der Doktor rückte seine Robe zurecht und ließ ein strahlendes, großväterliches Lächeln erkennen. »Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß eine verabscheuungswürdige Person Sie offenbar mit falschen Informationen versorgt hat«, sagte er. »Vielmehr ist es so, daß ich keine Ahnung habe, wo sich die Fibel befindet.«
Die Dimensionen dieser Falle waren so gewaltig, daß Hackworths Verstand immer noch durcheinanderwirbelte und hilflos von einer Wand zu anderen prallte, als er zwanzig Minuten später dem Bezirksrichter vorgeführt wurde. Sie hatten einen Gerichtssaal in einem großen, alten Garten im Zentrum von Alt-Shanghai eingerichtet. Es handelte sich um einen mit flachen grauen Steinen gepflasterten Platz. An einem Ende stand ein erhöhtes Gebäude, auf einer Seite zu dem Platz hin geöffnet, mit einem geschwungenen Ziegeldach, dessen Ecken hoch in die Luft gezwirbelt waren und dessen First ein Tonfresko zierte, das zwei Drachen mit einer großen Perle zwischen sich darstellte. Hackworth registrierte am Rande, daß es sich um die Bühne eines Amphitheaters handelte, was den Eindruck verstärkte, daß er der einzige Zuschauer eines komplexen Schauspiels war. Ein Richter, der ein Prunkgewand und einen imposanten Hut mit dem Emblem eines Einhorns trug, saß vor einem flachen Tisch mit Brokatdecke. Hinter ihm etwas seitlich versetzt, stand eine kleine, zierliche Frau, die eine, wie Hackworth vermutete, Phänomenoskopbrille trug. Als Constable Chang auf die Stelle des grauen Steinbodens gedeutet hatte, wo Hackworth niederknien sollte, begab er sich auf die Tribüne und bezog auf der anderen Seite des Richters Stellung. Einige andere Funktionäre standen auf dem Platz verteilt, hauptsächlich Dr. X und seine Gefolgsleute, die in zwei parallelen Reihen
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