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Diaspora

Diaspora

Titel: Diaspora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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auf dem alles, was er dachte und fühlte, in Wirklichkeit stattfand.
    Er öffnete die Augen.
    Er konnte jetzt viel mehr Sterne gleichzeitig sehen, doch sie schienen sehr spärlich verteilt zu sein; denn hier gab es viel mehr Leere auszufüllen. Ohne richtig darüber nachzudenken, begann er damit, die Punkte zu verbinden, im Kopf einfache Konstellationen zu skizzieren. Hier gab es keine offensichtlichen Figuren, keinen Scorpio oder Orion; man konnte bereits über eine einzige Linie zwischen zwei Sternen staunen. Sein Sichtfeld erstreckte sich nun über den gewohnten Bereich hinaus in zwei orthogonale Richtungen. Paolos Freund Karpal hatte vorgeschlagen, sie als quadral und quintal zu bezeichnen, doch es gab keine offensichtliche Basis für ihre Unterscheidung. Orlando hielt sich an den Oberbegriff: die hyperale Ebene.
    Die Netzwerke seines Sehzentrums und seiner Raumvorstellung trafen eine grobe sinnliche Unterscheidung zwischen den hyperalen Richtungen, aber es war dennoch eine bewußte Anstrengung nötig, um sie kognitiv zu erfassen. Sie waren auf keinen Fall vertikal; diese Erkenntnis hinterließ den nachhaltigsten Eindruck. Die Richtung der Gravitation und der Hauptachse seines Körpers hatte nichts damit zu tun. Wenn er wie ein Flachland-Bewohner war, der die Welt außerhalb seiner Ebene sah, so war diese Ebene immer vertikal gewesen, und diese Schlitz-Perspektive hatte sich nun seitwärts erweitert. Aber seine neuen Richtungen waren auch nicht lateral, denn im Gegensatz zu einem vertikalen Flachländer waren seine ›Seiten‹ bereits besetzt. Wenn er sein Sichtfeld bewußt in eine linke und rechte Hälfte aufteilte, so lagen all die ausschließlich hyperalen Sterne entweder in der einen oder der anderen Hälfte, genauso wie es bei den gewöhnlichen Sternen der Fall gewesen war. Auch wenn sein gesunder Menschenverstand ihm dies als einzige Möglichkeit einreden wollte, hatte er nicht das Gefühl, daß der Himmel mehr Tiefe gewonnen hätte, daß die Sterne ihm wie ein holographisches Bild entgegenragten.
    Orlando war sich aller drei Negationen gleichzeitig bewußt. Die hyperale Ebene war durch seine Anatomie eindeutig definiert, solange er nicht vergaß, daß sie rechtwinklig zu allen drei Achsen seines Körpers stand.
    Eine annähernd kreuzförmige Konstellation befand sich nahezu waagerecht in der hyperalen Ebene. Jeder der vier Sterne hatte ungefähr dieselbe Höhe über dem Horizont und dieselbe azimutale Links-rechts-Ausrichtung, aber sie standen trotzdem nicht an derselben Stelle des Himmels. Durch die hyperalen Richtungen wurden sie in ähnlicher Form wie das Kreuz des Südens auseinandergezogen. Orlando versuchte ihnen räumliche Eigenschaften zuzuschreiben: sinister und dexter für das quadrale Paar, gauche und droit für das quintale. Diese Zuweisung war jedoch völlig willkürlich, als würde man die Kompaßrichtungen einer fiktiven Landkarte auf einem kreisrunden Stück Papier festlegen.
    Mehrere Grad nach links-oben-dexter-gauche konnte er vier weitere Sterne erkennen, die in der lateral-vertikalen Ebene lagen, der Ebene des ›normalen‹ Himmels. Die zwei Ebenen mental zu erweitern und ihre Beziehung zu visualisieren war eine sehr ungewöhnliche Erfahrung. Denn sie hatten nur einen einzigen Schnittpunkt. Ebenen schnitten sich für gewöhnlich in Geraden, aber diese hielten sich nicht daran. Eine quadrale Gerade, die zwischen den sinisteren und dexteren Sternen des Hyperalen Kreuzes hindurchlief, durchbohrte die vertikale Ebene in rechten Winkeln zu beiden Armen des Vertikalen Kreuzes … und dasselbe galt für die quintale Gerade. Am Himmel – oder in seinem Kopf – gab es vier Geraden, die alle rechtwinklig zueinander verliefen.
    Und der Himmel wirkte dennoch flach.
    Orlando senkte nervös den Blick. Auch unter dem Horizont waren Sterne sichtbar, aber er sah sie nicht durch den Boden, sondern drumherum, als würde er auf einer schmalen Klippe oder einer spitzen Säule stehen. Er hatte sich entschlossen, auf die Fähigkeit zu verzichten, seinen Kopf oder Körper aus den gewohnten drei Dimensionen der Landschaft hinausbewegen zu können, obwohl sich seine Augen wie bei einem hyperalen Frosch aus dem Schädel wölbten, um zusätzliche Informationen aufnehmen zu können. Er stellte sich einen vertikalen Flachland-Bewohner mit zwei kreisförmigen Augen vor, eins über dem anderen, die sich plötzlich in Kugeln verwandelten. Ihre Bewegungsachsen lagen immer noch in der ebenen Welt, doch die Linsen,

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