Diaspora
wüßten und keine andere Wahl hätten.
Unsere Situation ist das genaue Gegenteil: Wir haben unendliche Wahlmöglichkeiten. Deshalb müssen wir andere weltraumfahrende Zivilisationen finden. Lacerta zu verstehen ist wichtig, die Astrophysik des Überlebens ist wichtig, aber wir müssen auch mit anderen sprechen, die vor den gleichen Entscheidungen standen und erfahren haben, wie man leben kann, wozu man werden kann. Wir müssen begreifen, was es bedeutet, das Universum zu bewohnen.«
Paolo betrachtete die groben Neutrino-Bilder der Teppiche, die sich in Stakkato-Sprüngen durch seine dodekaedrische Privatlandschaft bewegten. Vierundzwanzig ausgefranste Rechtecke schwebten über ihm, Töchter eines größeren ausgefransten Rechtecks, das sich vor kurzem geteilt hatte. Modelle deuteten darauf hin, daß ozeanische Strömungskräfte möglicherweise den gesamten Prozeß erklären konnten, der einfach dann einsetzte, wenn der Elter eine kritische Größe erreicht hatte. Der rein mechanische Zerfall einer Kolonie – sofern es sich darum handelte – hatte vielleicht nur wenig mit dem Lebenszyklus der Teilorganismen zu tun. Es war frustrierend. Paolo war es gewöhnt, einen Überfluß an Daten zu einem Thema, das ihn interessierte, zur Verfügung zu haben. Es wäre unerträglich, wenn die große Entdeckung der Diaspora nicht mehr blieb als eine Sequenz unscharfer Schnappschüsse.
Er warf einen Blick auf die Neutrino-Detektoren der Scoutsonden, doch es gab keinen offensichtlichen Ansatz für eine Verbesserung. Die Atomkerne in den Detektoren wurden zu instabilen Zuständen hoher Energie angeregt, in denen sie durch fein eingestellte Gamma-Laser gehalten wurden, die jeden Eigenzustand niedrigerer Energie schneller zum Verschwinden brachten, als er auftreten konnte, um möglicherweise einen Übergang auszulösen. Eine Veränderung des Neutrino-Flusses um den Faktor zehn hoch minus fünfzehn konnte die Energieniveaus weit genug verschieben, um den Ausgleich zu stören. Doch die Teppiche warfen einen so schwachen Schatten, daß sie sich selbst in dieser nahezu vollkommenen Darstellungsweise kaum auflösen ließen.
»Du bist wach«, sagte Orlando Venetti.
Paolo drehte sich um. Sein Vater stand eine Armeslänge entfernt und zeigte sich als ästhetisch gekleideter Körperlicher von unbestimmtem Alter. Allerdings eindeutig älter als Paolo, denn Orlando hatte stets besonderen Wert auf diesen feinen Unterschied gelegt – auch wenn er inzwischen nur noch fünfundzwanzig Prozent betrug und weiter sank.
Paolo verbannte die Teppiche in den Raum hinter einem fünfeckigen Fenster und nahm die Hand seines Vaters. Die Anteile von Orlandos Geist, die sich mit seinem vermischten, drückten Freude über Paolos Erwachen aus dem Tiefschlaf aus, schwelgten in angenehmen gemeinsamen Erinnerungen der Vergangenheit und hegten die Hoffnung auf ein weiteres harmonisches Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Paolos Begrüßung war ähnlich, eine sorgsam entworfene ›Offenbarung‹ seines emotionalen Zustands. Es war mehr ein Ritual als ein Kommunikationsakt, aber schließlich gab es auch mit Elena Grenzen, die er niemals überschritt. Niemand war völlig aufrichtig gegenüber einer anderen Person – sofern die zwei nicht beabsichtigten, dauerhaft zu fusionieren.
Orlando deutete mit einem Nicken auf die Teppiche. »Ich hoffe, du weißt zu schätzen, wie wichtig sie sind.«
»Du weißt, daß ich das tue.« Das hatte er allerdings nicht in seine Begrüßung eingeschlossen. »Das erste außerirdische Leben.« C-Z hatte endlich die Gleisner-Roboter gedemütigt – so sah es vermutlich sein Vater. Die Roboter hatten als erste Alpha Centauri erreicht und als erste einen extrasolaren Planeten betreten, doch das erste Leben war wie Apollo im Verhältnis zu Sputnik, sofern man Wert darauf legte, in derartigen Begriffen zu denken.
Orlando sagte: »Das ist der Aufhänger, den wir brauchen, um die Bürger der peripheren Poleis zu gewinnen. Die noch keine vollständige solipsistische Implosion vollzogen haben. Das wird sie wachrütteln – meinst du nicht auch?«
Paolo zuckte die Achseln. Die Bürger der Erde waren frei, jede gewünschte Implosion zu vollziehen, was Carter-Zimmerman nicht daran hinderte, das physikalische Universum zu erkunden. Doch selbst wenn sie die Gleisner übertrumpften, würde sich Orlando damit noch lange nicht zufriedengeben. Wie viele andere carnevale -Flüchtlinge hatte er eine missionarische Ader. Er wollte, daß jede
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