Diaspora
den Weg zu anderen Sternen gemacht – oder sich zu etwas modifiziert, das völlig frei von nostalgischem Mitgefühl für organisches Leben war?
Grandiose Visionen für einen Zwölfhundertjährigen. Der Fomalhaut-Klon war durch einen winzigen Stein ausgelöscht worden. Im Wega-System gab es wesentlich mehr Trümmer als im interstellaren Raum. Selbst mit einem Verteidigungsring aus Scoutsonden war dieser C-Z-Klon nicht unverletzlich, nur weil er das Ziel seiner Reise intakt erreicht hatte. Elena hatte recht – sie mußten den Augenblick nutzen. Andernfalls konnten sie sich genausogut in ihre hermetischen Welten zurückziehen und vergessen, daß sie jemals diese Reise unternommen hatten.
»Wir können hier nicht ewig liegen. Die Bande wartet bereits darauf, dich wiederzusehen.«
»Wo?« Paolo verspürte den ersten leichten Anfall von Heimweh, denn auf der Erde hatte sich sein Freundeskreis immer im Pinatubo-Krater versammelt, in einem Bild, das in Realzeit von den Beobachtungssatelliten übermittelt wurde. Eine Aufzeichnung wäre nicht dasselbe.
»Ich werde es dir zeigen.«
Paolo nahm ihre Hand und folgte ihr, als sie sprang. Der Pool, der Himmel und der Hof verschwanden – dann blickte er wieder auf Orpheus hinab … auf die Nachtseite, die jedoch alles andere als dunkel war. Seine vollständige mentale Palette konnte nun alles decodieren, von der bleichen Tünche langwelliger Radiostrahlung bis zum vielfarbigen Schimmer isotopischer Gammastrahlen und dem Gegenlicht der kosmischen Bremsstrahlung. Die Hälfte des abstrakten Wissens über den Planeten, mit dem die Bibliothek ihn gefüttert hatte, war nun auf den ersten Blick offensichtlich. Das gleichmäßige thermale Glühen entzifferte er mühelos als dreihundert Grad Kelvin – ebenso wie die verräterische Infrarot-Silhouette der Atmosphäre.
Er stand auf einer langen, metallisch aussehenden Strebe am Rand einer riesigen geodätischen Sphäre, die sich zur strahlenden Kathedrale des Weltraums öffnete. Er blickte auf und sah das sternenreiche, staubverschleierte Band der Milchstraße, die im Kreis vom Zenit zum Nadir um ihn herumführte. Paolo war sich des Glühens jeder Gaswolke bewußt, konnte jede Absorptions- und Emissionslinie erkennen und spürte beinahe, wie die Ebene der galaktischen Scheibe durch ihn hindurchschnitt. Einige Konstellationen waren verzerrt, doch der Anblick war eher vertraut als fremdartig, und er konnte die meisten der alten Leuchtfeuer an der Farbe identifizieren. Nachdem er sich orientiert hatte, wurde die Richtung, in der sie sich bewegt hatten, an der Verschiebung der nächsten Sterne erkennbar, an der Zunahme oder Verringerung ihrer Leuchtkraft. Der früher strahlend helle Sirius war am auffälligsten geschrumpft, so daß Paolo dort den Himmel absuchte. Fünf Grad südlich davon – nach beschränkten irdischen Begriffen – stand schwach, aber unverkennbar: die Sonne.
Elena war neben ihm, oberflächlich unverändert, obwohl sie beide die Einschränkungen der Biologie abgeschüttelt hatten. Die Konventionen dieser Landschaft imitierten die Physik realer makroskopischer Objekte im Vakuum und freien Fall, doch sie berücksichtigten nicht die Gesetze der Chemie oder gar von Körpern aus Fleisch und Blut. Ihre Körper waren nicht mehr als gewöhnliche C-Z-Icons, fest und greifbar, aber ohne ausgefeilte Mikrostruktur – und ihr Geist war überhaupt nicht in die Landschaft eingebettet, sondern lief als reiner Shaper in ihren entsprechenden Exo-Ichs.
Paolo war erleichtert, sich wieder im normalen Zustand zu befinden. Eine gelegentliche zeremonielle Regression zur Form der Vorfahren machte seinen Vater glücklich, und die Existenz als Körperlicher war größtenteils selbstbestätigend, solange sie anhielt – doch jedesmal, wenn er diese Erfahrung beendete, fühlte er sich, als hätte er sich aus jahrmilliardenalten Ketten befreit. Es gab Poleis, in denen die Bürger seine gegenwärtige Existenzform fast als archaisch betrachteten, doch für Paolo war das Gleichgewicht genau richtig. Er genoß das Gefühl der Verkörperung, das von einer taktilen Oberfläche und vom Feedback der Eigenwahrnehmung herrührte, doch nur ein Fanatiker konnte darauf bestehen, kilogrammweise sinnloser Eingeweide zu simulieren, jede Landschaft durch verkrüppelte Sinnesorgane wahrzunehmen und den Geist all den unangenehmen Launen der Neurobiologie zu unterwerfen.
Ihre Freunde versammelten sich und gaben mit ihrem Geschick in Schwerelosigkeitsakrobatik an.
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