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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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meine Eltern von klein auf zu strenger Pünktlichkeit und Ordnung erzogen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie jemanden gekannt, der so unordentlich war wie Sarah. Martine und sie hatten ein Motto, das mir völlig neu war: leben, ohne sich Kopfschmerzen zu machen. Sie fanden nichts dabei, erst am späten Morgen aufzustehen, mitten am Nachmittag zu essen, bei einem Freund den Abend zu verbringen und erst mitten in der Nacht nach Hause zu kommen, um wenige Stunden später zur Arbeit oder in die Schule zu gehen. Ich ließ mich von Sarah oft in den höllischen Strudel dieses hektischen Lebens hineinziehen, was meiner Mutter ein Dorn im Auge war. Aber das kümmerte mich nicht. Ich wollte mich von meinen Eltern nie wieder zwingen lassen, ein so eintöniges und spießiges Leben zu führen wie sie.
    Bald setzte mich mein Vater fast regelmäßig jede Woche vor Sarahs Haus ab. Ihre Mutter mochte mich sehr, und ich ließ mich von ihr wie eine Tochter behandeln. Die kleine stille Wohnung wurde mein Zuhause. Doch ehrlich gesagt blieben wir nur selten dort. An den meisten Abenden begleitete ich Sarah zu verrauchten Partys oder Essen bei Freunden ihrer Mutter. Meine Mutter sah das nicht gern, doch Sarah lachte ihr ins Gesicht. Und ich auch.
    Sarah lehrte mich zu leben. Mit einem Schrei der Erleichterung löste sich der Knoten in meiner Brust, der mir zu lange den Atem geraubt hatte.
    Nach und nach lernte ich sie besser kennen. Doch Sarah verhielt sich immer so, dass man nie dahinter kam, wie sie wirklich war. Sie war ganz einfach anders. Manchmal vergaß sie, dass wir schon dreizehn waren, wurde albern, fast schon kindisch; dann wieder war sie wie ausgewechselt, richtig erwachsen und ließ sich auf eine Diskussion ein, bei der sie eine erstaunliche Reife bewies. Sie erzählte mir stundenlang von ihren Wünschen, ihren Träumen, ihrem Kummer. Mal lachte ich mich über ihre kindischen Anfälle halb tot, mal verfielen wir in feierlichen Ernst, wenn sie mir ihr Herz ausschüttete und ich für ein paar Worte, die sie in ihrem Kummer hätten trösten können, mein Leben hingegeben hätte.
    Was kann ich also über sie sagen? Wie soll ich sie genau beschreiben, sie, die keinem anderen Menschen ähnelte, sie, die mein Leben verändert hat?
    Bilder der Vergangenheit steigen in mir auf. Sie steht halb nackt vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und kehrt mir den Rücken zu. Sie hat endlos lange Beine, einen knabenhaften muskulösen Körper, das Gesicht eines Pariser Gassenjungen; und doch verströmen ihre offenen Haare und ihr entblößter Oberkörper einen unvergleichlichen weiblichen Charme. Ich betrachte sie hingerissen, und sie mustert sich in dem großen Spiegel stumm und beinahe streng von Kopf bis Fuß und zieht einen Flunsch. Dann klagt sie über ihre Hüften, die sie zu schmal findet, oder über ihre unterentwickelten Brüste. Ich sitze hinter ihr auf der zum Sofa verwandelten Matratze und versuche, sie zu beruhigen, sage ihr immer wieder, dass es an ihr nichts auszusetzen gibt und dass sie keinen Grund hat, Komplexe zu bekommen. Sie scheint mir überhaupt nicht zuzuhören, bis sie plötzlich herumfährt, in Lachen ausbricht und mich mit Küssen überhäuft.
    Ich war von ihr fasziniert. Ihre Unverfrorenheit, ihre Launen und ihre Naivität gaben mir Rätsel auf. Trotzdem hat sie nie jemand besser verstanden als ich; ich kannte sie durch und durch, wusste stets, wie sie reagieren würde, sah ihre häufigen Stimmungswechsel voraus. Und doch, so sehr ich mich auch bemühte, ihren widersprüchlichen und einzigartigen Charakter zu begreifen, so musste ich doch verzweifelt zugeben, dass ich den Hoffnungen, die sie in mich setzte, niemals gerecht werden konnte.
    Ohne es zu wissen, war Sarah im Begriff, mir eine Identität zu geben. Wenn ich mit ihr zusammen war, hatte ich das Gefühl, endlich wahrgenommen, vielleicht sogar geliebt zu werden, und das war für mich ein neues, erhebendes, beinahe Schwindel erregendes Gefühl.
    Da sie mir Selbstvertrauen einflößte, hatte ich das Gefühl, wieder aufzuleben. Sie sagte von mir, ich sei ein »tolles Mädchen« und hätte eine zu schlechte Meinung von mir, und sie sagte, ich sei die Freundin, nach der sie sich »immer gesehnt« hätte. Wie gern hätte ich ihr geglaubt. Sie nannte mich »Charlie« und lachte dabei wie ein Kind. Und jedes Wort von ihr machte mich etwas stärker und zufriedener. Ich bemühte mich, diese Charlène zu sein. Ihr zuliebe hätte ich alles werden können.
    Sarah verstand

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