Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
Vom Netzwerk:
mich besser, als ich mich jemals selbst verstanden hätte. Sie forschte jenseits meines Daseins mit seinen simplen Beschränkungen. Nach und nach nahm mein Leben Formen an, ich wurde wer. Oft machte mir das Angst. Es ging zu schnell, war zu neu, zu schön, als dass es wirklich mir gehören konnte.
    Eines Abends im Frühling, als wir beide aus den Korridoren des Chopin traten, fragte ich sie: »Warum gerade ich?« Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass ein Mädchen wie sie an einer wie mir Gefallen finden konnte. Sie hatte alles, ich war nichts. Überall, wo sie hinkam, erlagen die Leute ihrem Charme. Wieso gab sie sich dann mit mir ab?
    Sie blieb stehen und sah mich aus verschleierten Augen an: »Aber du bist doch meine beste Freundin, Charlie.«
    Und sie hatte es mit einer Aufrichtigkeit und Selbstverständlichkeit gesagt, dass ich ihr auf Anhieb glaubte. Und mein Leben wurde dadurch vollkommen verändert.
    Ich brauchte ihre Unbekümmertheit. In gewisser Hinsicht war sie noch ein richtiges Kind. Ich hatte mich bis dahin darauf versteift, wie eine frühreife Erwachsene zu leben und zu denken. Ich war damit kläglich gescheitert. Jetzt holte ich mit ihr die Freuden der Kindheit nach. Die ungewöhnlichen Stunden, die ich mit ihr verbrachte, hatte den süßen Reiz des Verbotenen. Ich war von ihr behext, nichts hätte mich dem Zauber, den sie auf mich ausübte, entziehen können.
    Meine Eltern machten sich Sorgen. In den Augen meiner Mutter hatte Sarah einen schlechten Einfluss auf mich. Ich war ekelhaft zu ihnen. Eines Tages, als sie mir deswegen Vorhaltungen machten, brüllte ich: »Auf jeden Fall ist Sarahs Familie
meine
Familie. Von jetzt an existiert ihr nicht mehr für mich.«
    Wir verbrachten einen Teil der Ferien zusammen. Es war ein herrlicher Sommer, bewegt und sonnig. Jeder Tag meines Lebens zog unter einem noch blaueren Himmel vor meinen Augen vorüber. Wir beide lebten in einer Welt ohne Grenzen, ohne Tabus.
Ich existierte.
Das Leben bot sich mir in einem Schmuckkästchen dar, das ich bis dahin nie zu öffnen gewagt hatte.
    Sie besuchte mich gelegentlich, und wir verbrachten dann ein paar Tage im Haus meines Onkels, der auf dem Land lebte. Die Hosen bis zu den Waden hochgekrempelt, wateten wir unter lautem Gelächter durch den kleinen Bach, der am Garten vorüberfloss. »Trag mich, Charlie, los, trag mich!«, bettelte sie, wohl wissend, dass ich ihr nichts abschlagen konnte. Also nahm ich sie huckepack und hörte sie lachen, wenn ich schon nach drei Schritten ins eiskalte Wasser plumpste. Wir zogen uns die Kleider aus, sanken ins Gras und ließen uns in der Sonne braten. Die Spaziergänger guckten verdutzt. Sarah scherte sich nicht darum, und ich stimmte in ihr Lachen ein. Dann gingen wir nach Hause und erfanden tausend Ausreden, um meiner Tante die nassen Hosen und die schmutzigen Schuhe zu erklären.
    Das alles machten wir, weil sie es wollte, alles entsprang ihren Launen. Sie war fröhlich, weil ich alles tat, was sie von mir verlangte, mich sogar lächerlich machte, auch wenn das niemand außer ihr lustig fand. Offen gestanden, war ich erst beruhigt, wenn ich sie lachen hörte. Ihre Heiterkeit war für mich ein innerer Triumph, aber nur, wenn ich der Grund war. Sobald jemand anders sie zum Lachen brachte, wurde ich schrecklich eifersüchtig.
    Manchmal nahm sie mich zu ihren Großeltern mit, die in einer kleinen Wohnung im 13. Arrondissment wohnten. In den Zimmern roch es alt. In diesen vier Wänden gab es nichts außer Stille und Zeit, betont durch das unablässige Schwingen einer alten Pendeluhr. Oft überkam mich dort ein Schwindelgefühl. Sarahs Großmutter war sehr nett. Ihr voller Busen und ihre feisten Arme erinnerten mich manchmal an die ersten Umarmungen meiner Mutter. Wenn wir nachmittags zum Kaffee kamen, empfing uns schon an der Tür ein köstlicher Duft nach süßem Gebäck. Ich entsinne mich, wie es auf der Zunge verging, wenn ich es vorher in heiße Schokolade getunkt hatte. Ihren Großvater konnte ich nicht ausstehen. Er war ein hagerer, langer, hässlicher Kerl mit einem unerträglichen Lachen. Beim Abendessen schlürfte er ekelhaft laut seine Suppe, ohne sich zu genieren. Sarahs Großeltern lebten sehr zurückgezogen. Sie stellten keine Ansprüche, alles, was ihnen am Herzen lag, war das Glück ihrer Enkelin. Sarah war ihr Ein und Alles. Doch für Sarah waren sie nur Fremde, die das Leben ihrer Mutter zerstört hatten. Ich war oft darüber empört, wie sie über sie sprach.

Weitere Kostenlose Bücher